Asset-Herausgeber

Autonome Verwaltungsverfahren

  Bibliographische Angaben

Autonome Verwaltungsverfahren

Autorinnen / Autoren:
Lina Bruns
Zuletzt bearbeitet:
Sep 2017
Titel:
Autonome Verwaltungsverfahren
Trendthema Nummer:
48
Herausgeber:
Kompetenzzentrum Öffentliche IT
Titel der Gesamtausgabe
ÖFIT-Trendschau: Öffentliche Informationstechnologie in der digitalisierten Gesellschaft
Erscheinungsort:
Berlin
Autorinnen und Autoren der Gesamtausgabe:
Mike Weber, Stephan Gauch, Faruch Amini, Tristan Kaiser, Jens Tiemann, Carsten Schmoll, Lutz Henckel, Gabriele Goldacker, Petra Hoepner, Nadja Menz, Maximilian Schmidt, Michael Stemmer, Florian Weigand, Christian Welzel, Jonas Pattberg, Nicole Opiela, Florian Friederici, Jan Gottschick, Jan Dennis Gumz, Fabian Manzke, Rudolf Roth, Dorian Grosch, Maximilian Gahntz, Hannes Wünsche, Simon Sebastian Hunt, Fabian Kirstein, Dunja Nofal, Basanta Thapa, Hüseyin Ugur Sagkal, Dorian Wachsmann, Michael Rothe, Oliver Schmidt, Jens Fromm
URL:
https://www.oeffentliche-it.de/-/autonome-verwaltungsverfahren
ISBN:
978-3-9816025-2-4
Lizenz:
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (CC BY 3.0 DE) http://creativecommons.org/licenses/by/3.0 de/legalcode. Bedingung für die Nutzung des Werkes ist die Angabe der Namen der Autoren und Herausgeber.

Autonome Systeme prägen die Digitalisierung von morgen. Erste Auswirkungen sind bereits zu spüren: Die ersten autonom fahrenden Autos werden getestet und in der Industrie entscheiden Maschinen über den nächsten Produktionsschritt. Doch lässt sich dieser Autonomisierungstrend auch auf Verwaltungen übertragen? Entscheiden zukünftig autonome Systeme über BAföG- und Kindergeldanträge?

Stufen der Automatisierung

Bei allen Unterschieden in der Bewertung der Geschwindigkeit schreitet die Digitalisierung von Staat und Verwaltung kontinuierlich voran. Anträge können immer öfter elektronisch gestellt werden, Papierakten werden von der elektronischen Akte verdrängt und Prozesse laufen zunehmend digitalisiert ab. Was bleibt, ist die Entscheidung der Verwaltungsmitarbeiter_innen, welchen Anträgen stattgegeben werden kann. Es stellt sich allerdings die Frage: Wie lange noch? Industrie (siehe Industrie 4.0), Medizin und die Mobilitätsbranche (siehe Autonomes Fahren) machen es vor: Kognitive Systeme (siehe Denkende Maschinen) entlasten zunehmend den Menschen und sorgen für schnellere und präzisere Abläufe. Ihr Einsatz ist auch in der Verwaltung möglich.

In Anlehnung an Konzepten zum autonomen Fahren lassen sich verschiedene Stufen der Verwaltungsautomatisierung unterscheiden. Funktionen wie etwa Plausibilitätsprüfungen unterstützten die Bearbeitung. In einem nächsten Schritt können einzelne Teilprozesse automatisiert werden. Auch dann liegt die Bearbeitung in der Hand der Verwaltungsmitarbeiter_innen. Erst bei der hochautomatisierten Abwicklung liegt das Verfahren in der Hand der Systeme, während die Rolle der Bearbeitenden auf die Kontrolle und Eingriffe in Notsituationen beschränkt bleibt. Vollautomatisierte, autonome Systeme übernehmen auch diese Konktrollfunktion selbst, indem etwa selbstlernende Systeme eingesetzt werden.

Begriffliche Verortung

Netzwerkartige Verortung des Themenfeldes
Gesellschaftliche und wissenschaftliche Verortung für die Begriffe »automation« und »e-government«

Automatisierung im Einsatz

Autonome Verwaltungsverfahren ermöglichen, dass Bürger_innen beispielsweise ihren Bewohnerparkausweis ohne menschliches Zutun auf Behördenseite ausgestellt bekommen. Das System übernimmt die Verarbeitung der Antragstellerdaten, prüft auf Vollständigkeit, erkennt fehlende Unterlagen und fordert diese beim Antragsteller nach, führt eigenständig die Kfz- und Wohnortsabfrage durch (siehe No-Government) und entscheidet auf dieser Basis über das Ausstellen des Bewohnerparkausweises. Auch ein proaktives Angebot an berechtigte Personen wird so möglich.
Für solche einfachen Verfahren reichen deterministische Systeme: Diese treffen Entscheidungen durch die ausschließliche Anwendung von expliziten, widerspruchsfreien Regeln. Die Entscheidungen sind so einfach nachvollziehbar, denn die implementierten Regeln ermöglichen eine Erklärung der Entscheidungsfindung.

Lassen sich Rechtsnormen in »Wenn-Dann«-Regeln übersetzen, wird vollautomatisiertes und transparentes Verwaltungshandeln ermöglicht. Dies gilt insbesondere für Verwaltungsentscheidungen, für die eine entsprechende Rechtsnorm eine eindeutig bestimmte Rechtsfolge vorschreibt. In diesem Fall muss das System den vorliegenden Sachverhalt lediglich unter die richtige Rechtsnorm subsumieren und die vorgeschriebenen Anweisungen ausführen. Für einfach strukturierte und standardisierte Verfahren mit einem anspruchsbegründenden externen Auslöser ist die Vollautomatisierung möglich, ohne dass überhaupt ein Antrag erforderlich ist, wie die antragslose Familienbeihilfe in Österreich zeigt.

Ermessensspielräume als Herausforderung

Sobald jedoch ein gewisser Interpretationsspielraum bei Entscheidungsfindungen besteht, sind streng regelbasierte, deterministische Systeme nicht mehr das geeignete Mittel für vollautomatisiertes Verwaltungshandeln. Räumt eine Rechtsnorm Ermessen ein oder enthält sie unbestimmte Rechtsbegriffe, ist eine Überprüfung der Gegebenheiten und Umstände des vorliegenden Falls obligatorisch. Solche Parameter ließen sich zwar vorab in einem regelbasierten System programmieren. Jedoch birgt die daraus folgende Schematisierung die Gefahr, dass das System dem Einzelfall nicht gerecht werden kann, dass untypische Einzelfälle nicht erkannt und falsche Entscheidungen getroffen werden.
Künstliche Neuronale Netze (siehe Neuronale Netze) bieten hier einen möglichen Lösungsansatz. Ihre Funktionsweise ist dem des menschlichen Gehirns nachempfunden und sie können mit Interpretationsräumen in Rechtsnormen durchaus umgehen. Je mehr Ermessen zugestanden wird, desto schwieriger ist die Umsetzung in Regeln und desto mehr bietet sich der Einsatz neuronaler Netze an.

Ihr Einsatz steht jedoch in einem ausgeprägten Spannungsverhältnis zu Prinzipien des Verwaltungshandelns wie Transparenz, Zugänglichkeit und Nachvollziehbarkeit. Die Entscheidungsfindung durch Neuronale Netze lässt sich nur mit beträchtlichem Aufwand nachvollziehen und wird daher von den Betroffenen oft als eine Black Box empfunden. Einzig der Input in Form von Daten sowie der letztliche Output in Form der Entscheidung sind bekannt, nicht jedoch die Vorgehensweise, die sich durch Lernen aus vergangenen Entscheidungen kontinuierlich anpasst.

Akzeptanz für eine proaktive Verwaltung

Zudem birgt die Automatisierung von Verwaltungsverfahren mittels kognitiver Verfahren gewisse Herausforderungen. Schon die Auswahl der Trainingsdaten kann dazu führen, dass ein Algorithmus (unbeabsichtigt) diskriminierende Präferenzen abbildet. Auch rein statistische Zufälle müssen trotz ihrer Seltenheit als herausfordernd bewertet werden, ebenso wie die hohen Anforderungen an die Datenqualität. Offen ist auch die Frage der Akzeptanz bei Bürger_innen und Mitarbeiter_innen. Werden wir die Ablehnung unseres Bauantrages durch ein neuronales Netz akzeptieren können oder hat der Einsatz solcher Technologien eine Erhöhung der Widerspruchsrate zur Folge, um eine manuelle Bearbeitung des Einspruchs zu erzwingen?
Neben den Risiken birgt die Automatisierung von Verwaltungsverfahren das große Potenzial, proaktives Verwaltungshandeln zu etablieren. Werden morgen BAföG-Anträge automatisiert beschieden, so könnten übermorgen Berechtige automatisch begünstigt werden, wenn sie nicht ausdrücklich widersprechen:

Die erforderlichen Daten wie Einkommenssituation der Eltern und Wohnsituation liegen bereits vor und könnten beispielsweise bei Studierenden aufgrund der Einschreibung an der Hochschule ausgewertet werden. Trends wie Big Data oder der Einsatz von Blockchain (siehe Blockchain) befördern automatisiertes Verwaltungshandeln zusätzlich. Bis es soweit ist, müssen aber zunächst die Voraussetzungen für die Automatisierung in der Verwaltung geschaffen werden. Hierzu zählen neben einem automatisierungsfördernden Rechtsrahmen – nach dem Prinzip Digital First – die vollständige Digitalisierung der Verwaltungsverfahren.

Themenkonjunkturen

Suchanfragen und Zugriffe auf Wikipedia-Artikel für den Begriff »E-Government«
Wissenschaftliche Publikationen und Patentanmeldungen für die Begriffe »process automation« und »government«

Folgenabschätzung

Möglichkeiten

  • Entlastungen der Verwaltungsmitarbeiter durch Wegfall von Routinearbeiten
  • Entlastungen der Bürger durch Etablierung von proaktivem Verwaltungshandeln
  • Kürzere und besser planbare Bearbeitungszeiten
  • Bearbeitung außerhalb üblicher Geschäftszeiten
  • Sogwirkung zur medienbruchfreien Gestaltung von Verwaltungsdienstleistungen

Wagnisse

  • Gesellschaftliche Akzeptanz von automatisierten Entscheidungen
  • Erhöhte Widerspruchsrate
  • Transparenz von KI-Entscheidungen
  • Konservierung des Status quo durch vergangenheitsbezogene Trainingsdaten
  • Umgang mit Fehl- und kontraintuitiven Ermessensentscheidungen

Handlungsräume

Digitale Verwaltungsverfahren neu denken

Erst wenn Verwaltungsverfahren medienbruchfrei und vollständig digitalisiert ablaufen, kann Automatisierung effizient eingesetzt werden. Eine digitale Abbildung von Bestehendem reicht hier nicht. Von Anfang an ein Verfahren vollautomatisiert zu denken, ist ein guter Ausgangspunkt für seine Digitalisierung.

Bürgerfreundliche initiale Anwendungen schaffen

Regelbasierte Systeme können bereits heute gesetzeskonform eingesetzt werden. So könnte beispielsweise, wie in anderen Ländern bereits praktiziert, bei Neuanmeldung eines Kindes beim Standesamt direkt die Auszahlung des Kindergeldes initiiert werden.

 

Verwaltungsprinzipien wahren

Verwaltungsprinzipien wie Transparenz, Gleichbehandlung und Vergleichbarkeit gilt es auch bei automatisierten Entscheidungen zu wahren. Dazu bedarf es neben anderem auch eines kontinuierlichen Monitorings des Entscheidungsverhaltens und Forschungsanstrengungen zu algorithmischen Verzerrungen.