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Digitaltaugliches Recht – Aus Sicht der legistischen Praxis

Digitaltaugliches Recht – Aus Sicht der legistischen Praxis

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Matthias Schmid ist Referatsleiter im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV). Als Jurist befasste er sich zunächst knapp zehn Jahre als Zivilrichter in Berlin mit der Rechtsanwendung. Seit gut 20 Jahren ist er im Bereich der privatrechtlichen Rechtssetzung tätig. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder.

Editors Note: Wie kann zukünftig sichergestellt werden, dass Gesetze mit einem digitalen bzw. (teil)automatisierten Verwaltungsvollzugsprozess kompatibel sind? Hierfür muss der Hebel bereits bei der Entwurfsphase von Gesetzen und Verordnungen angesetzt werden. So lautete eine Kernaussage unseres Im-pulspapiers »Recht Digital«, in dem wir einige der Voraussetzungen dargestellt haben, die für automations-taugliche Rechtsnormen berücksichtigt werden sollten. Anknüpfend an dieses Papier möchten wir in einer Blogreihe das Themenfeld »Digitales Recht« explorativ in verschiedene Richtung weiter beleuchten.

Ein Überblick über die bisherigen Beiträge dieser Reihe:

  1. Entlasten, nicht entmachten: Was der Gesetzgeber heute tun kann, um die Automatisierung der öffentlichen Verwaltung zu unterstützen
  2. Modellieren statt programmieren: Low Code und die digitalisierte Körperschaftssteuer
  3. »Better Rules«: Neuseelands Erfahrung mit digitalisierbarem Recht in der Corona-Krise
  4. Recht digital: Schwer verständlich »by Design« und allenfalls teilweise automatisierbar?
  5. Cracking the Code

Berechtigte Kritik

Die Kritik von Rechtsregeln aus (digitaler) Anwender:innensicht nimmt zu; und das ist völlig berechtigt. Auslöser ist der Befund, dass der digitale Vollzug mit den normativen Vorgaben in vielerlei Hinsicht nicht zurechtkommt, insbesondere in der öffentlichen Verwaltung. Aber natürlich gilt dies auch für private Akteur:innen, also etwa für Unternehmen, die Geschäftsprozesse aufsetzen, oder für Verbraucher:innen, die digitale Dienstleistungen in Anspruch nehmen.

Die Digitalisierung von Geschäftsprozessen legt problematische Regulierungen schonungslos offen:

»Wenn ein Jurist sagt: ‚Es kommt darauf an‘, fragt der Programmierer: ‚Worauf?‘«

Dieser Befund stimmt: Rechtliche Regeln sind oft ambivalent, defizitär, unvollständig. Was könnte die Situation verbessern?

Ist »Code as Law« die Lösung?

Sollte der Gesetzgeber zusätzlich zu einem Text in natürlicher Sprache (oder sogar an dessen Stelle) besser ausführbaren Code verabschieden? Einen Impuls hatte das Papier »Recht Digital: Maschinenverständlich und automatisierbar« des Kompetenzzentrums Öffentliche IT gesetzt. Weitergehend ist der Ansatz, parallel zur klassischen Textform eine maschinenlesbare Fassung der Regulierung zu erlassen. Das letzte Gutachten des Normenkontrollrats fordert eine »Digitaltauglichkeitsprüfung mit Data Dictionary und Data Repository«.

Wie sieht die legistische Praxis aus?

Die meisten Gesetzentwürfe kommen aus der Ministerialbürokratie. Die politischen und organisatorischen Rahmenbedingungen der praktischen Gesetzgebungsarbeit (Legistik) sind defizitär, und so wenig geeignet, handwerklich gutes Recht zu fördern. Ich habe das kürzlich in dem von Brönneke herausgegebenen Sammelband (S. 367ff.) ausführlicher beschrieben; hier auszugsweise nur zwei Aspekte:

»Politische Vorgaben: Die praktische Gesetzgebung hat auch unvollkommene politische Kompromisse umzusetzen, die selbst wiederum in schwierigen Prozessen zustande gekommen sind. Verbesserungen auf diesem Feld sind originär politische Fragen – nicht aber Fragen der Legistik im engeren Sinne.«

»Silodenken ist weit verbreitet. Die Ursachen sind vielfältig: Spezialisierung, fragmentierte Zuständigkeiten, oft aber auch schlichter Selbstschutz: Wer im Normsetzungsprozess (objektiv oder auch nur subjektiv) bereits beim eigenen Dossier an Grenzen gelangt, schirmt sich gerne gegen zusätzliche Komplexität ab. Diese Komplexitäts-Reduktion im jeweiligen Spezial-Dossier schlägt sich beim Normadressaten allerdings in multiplizierter Komplexität nieder.«

Die entscheidende Denkarbeit: Modellierung am »fuzzy frontend« der Regulierung

Rechtssetzung produziert Entscheidungsarchitektur. Maßgeblich für die Qualität des Endprodukts ist hierbei die Frühphase der Gesetzgebung, also zwischen dem Auftrag und dem ersten Text: Denn von den grundlegenden Strukturentscheidungen des »ersten Texts« können die Akteur:innen im Prozess der Normsetzung schon aus Zeitgründen meist nicht mehr abrücken.

Abbildung 1: Eigene Grafik | Matthias Schmid

Hier also, am »fuzzy frontend« des Gesetzgebungsprojekts, bestehen einerseits die größten Gestaltungsspielräume, andererseits das größte Informationsdefizit der Legist:innen. Deshalb sind gerade hier methodisches Vorgehen und gute Werkzeuge so entscheidend. Bessere Rechtssetzung sollte sich auf eben diese Phase fokussieren.

Es geht um kluge Bewältigung von Komplexität

Worum geht es am »fuzzy frontend« eines Gesetzgebungsprozesses – zwischen dem politischen Auftrag und dem »ersten Text«? Im Kern um die kluge Bewältigung von Komplexität. Wie kann dies gelingen?

Nun, dies ist zunächst – ganz »analog« – eine Frage der angemessenen Haltung der Legist:innen:

»Hinter jedem Text steckt eine Haltung der Verfasserin oder des Verfassers. Dies Haltung drückt sich in der kommunikativen Qualität des Textes aus. (...) Es kommt auch zu mehr oder minder Fällen der Fachblindheit ... (...) Ein Lebensbereich wird so normiert, als bestünde die Welt nur aus Beamten ... (...) Gesetzestexte werden zwar aus der politischen Debatte heraus geboren, sie müssen aber einen entschiedenen Schritt über die Politik heraus machen«

Zweitens: Eine rein sprach- und textbasierte Arbeitsweise wird den Anforderungen an die Bewältigung von Komplexität nicht gerecht. Meadows (S. 44) stellt fest:

»Wörter und Sätze müssen notwendigerweise eins nach dem anderen in linearer, logischer Folge vorgebracht werden. In Systemen passiert ganz viel auf einmal. Sie sind intern nicht nur in einer Richtung, sondern in vielen Richtungen gleichzeitig vernetzt.«

Und von Müller (S. 385) folgert:

»Unser visuelles System ist wesentlich besser geeignet, Komplexität zu verarbeiten, d.h. viele Komponenten und ihre Wechselbezüge gleichzeitig ‚im Blick zu haben‘, als unser viel stärker auf sequentielle Informationsverarbeitung angewiesener und ausgerichteter Sprachsinn.«

Für diese Methoden gibt es inzwischen eine Vielzahl smarter digitaler Werkzeuge. Online-Tools erlauben raum- und zeitunabhängige Kollaboration. Mit Werkzeugen für die Visualisierung komplexer Sachverhalte können wir die Beschränkungen linearer Textwelten überwinden. In der legistischen Praxis kommen sie bislang praktisch aber nicht vor: Zum einen fehlt die technische Infrastruktur. Vor allem aber sind wir nicht qualifiziert, diese Werkzeuge und Methoden tatsächlich zu nutzen.

Legistik ist ein Handwerk!

Wenn die These stimmt, dass Legistik ein Handwerk ist, bedeutet dies zugleich: Es muss gelernt – und gelehrt – werden. Das gilt für Methoden, und für den Umgang mit Werkzeugen. Niemand lernt schreiben, weil er oder sie über ein Textverarbeitungsprogramm verfügt, und niemand (auch Jurist:innen nicht) wird als Legist:in geboren. Bislang gibt es bestenfalls ein training on the job, ein learning by doing, jedoch keine systematische Aus- und Weiterbildung.

Wir haben bislang auch kein Labor, wo Methoden und Werkzeuge für die Legistik entwickelt bzw. adaptiert werden. Dabei sind Potenziale riesig, die zu heben wären: Mit angewandter Akteur:innenanalyse, Design Thinking, Kognitionspsychologie, systemischem Denken und vielem mehr. Allerdings gilt: Die Praxis benötigt einfache Werkzeuge und leicht zugängliche Methoden. Unsere Regelungsgegenstände sind komplex genug, personelle und zeitlich Ressourcen knapp. Basis-Funktionen mit flacher Lernkurve reichen da oft völlig aus; mehr ist ohnehin nicht nutzbar.

Diese Befunde sind jedenfalls Insider:innen seit Langem bekannt: Wir benötigen ein Zentrum für Legistik, das lehrt, forscht und die Methodik voranbringt; dringender denn je. Angekündigt war es in den Programmen 2016 und 2018 der Bundesregierung. Geschehen ist wenig.

Die Kunst, wohlgeformten Code und verständliches Recht zu konzipieren

Sollten wir vielleicht auch verlangen, dass Verfasser:innen von Gesetzentwürfen – neben ihrer Fachexpertise und Ausbildung in legistischer Methodik – auch über grundlegende Programmierkenntnisse verfügen? Die Regeln für wohlgeformten Code, etwa nach dem Zen of Python, entsprechen ja durchaus dem, was auch das Handbuch der Rechtsförmlichkeit für das Formulieren von Rechtsvorschriften empfiehlt:

»Beautiful is better than ugly. Explicit is better than implicit. Simple is better than complex. Complex is better than complicated. Flat is better than nested. Sparse is better than dense. Readability counts. Special cases aren't special enough to break the rules. Although practicality beats purity. (...)«

Ein Verständnis für grundlegende Konzepte der Informatik wäre also hilfreich; sie würden die mentalen Modelle der Entwurfsverfasser:innen bereichern – und zugleich für die Erfordernisse digitaler Geschäftsprozesse sensibilisieren. Auch über No-Code/Low-Code-Werkzeuge in der Legistik sollte weiter nachgedacht werden.

Modellierung und Visualisierung als Denk- und Kommunikations-Werkzeug

Nicht ansatzweise ausgeschöpft sind die Potenziale von Visualisierungen im Prozess der Rechtssetzung; in unterschiedlichster Funktion: Für die Modellierung der zu regelnden Sachverhalte, für die Abbildung logischer Beziehungen, für Verfahren. Diagramme könnten als vermittelnde Ebene dienen, über die die rechtssetzende Instanz und die Anwendungsebene kommunizieren könnten: Die Rechtssetzung (sowohl die Legistik, die Entwürfe vorbereitet, wie auch die Politik, die entscheidet) ist im Zweifel mit der Komplexität des Quellcodes der Implementierung überfordert, so er überhaupt verstanden wird. Für die Programmierer:innen wiederum bleiben beim Rechtstext (zu) viele Fragen offen. Ein BPMN-Chart oder ein logisches Diagramm können beide lesen.

Auch hier gilt allerdings: Gute Visualisierungen fallen nicht vom Himmel. Es bedarf zunächst einer visuellen Alphabetisierung, der Schulung in Diagrammatik. Sodann lassen sich selbst mit online frei verfügbaren Werkzeugen (z.B. Draw.io) Visualisierungen erzeugen, die politische Kommunikation ermöglichen (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Vereinfachte Darstellung der Verfahren bei Uploads | BMJV

Sind die Konzepte entwickelt, können auf dieser Grundlage Rechtsnormen über Rulemapping abgebildet werden (siehe Abbildung 3):

Abbildung 3: Screenshot | BMJV Referat III B 3

»Rulemapping kann die visuelle, sprachliche Schnittstelle zwischen Juristen, Prozessverantwortlichen und Entwicklern bilden. Es macht die Architektur des Rechts als handlungsleitende Wissensarchitektur sichtbar«

Perspektiven

Die Rechtsinformatik (so hieß »Legal Tech« früher einmal) war vor einem halben Jahrhundert bereits einmal optimistisch, das Recht vollständig zu digitalisieren. Recht bald stellte sich dann aber Ernüchterung ein (siehe z.B. Kilian, S. 202ff.). Damals wollten die Jurist:innen das Recht IT-tauglich machen.

Nun scheinen die Impulse eher von der Anwender:innenseite zu kommen. En vogue ist zudem die Idee eines »Digital-TÜV«. Aber was heißt das am Ende – wer setzt die Regeln? Bestimmt die technische Umsetzung in IT-Prozessen künftig die politische Gestaltung? Siehe hierzu auch Berger und Kolain auf dem ÖFIT-Blog.

Wir sollten uns zunächst auf die Denkarbeit und Kommunikation im frühen Rechtssetzungsprozess konzentrieren, um dort die Potenziale digitaler Werkzeuge und digitaler Kommunikation zu heben. Hier wäre mit wenig Aufwand viel zu erreichen. Bevor diese Grundlagen nicht geschaffen sind, gerade am »fuzzy frontend« der Gesetzgebung, hilft es wenig, über digitales Recht zu spekulieren:

»Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande«

Goethe

Die schönsten Textverarbeitungs-Werkzeuge (JoinUp oder E-Gesetzgebung) helfen wenig, wenn sich Strukturfehler in der Konzeptionsphase festgesetzt haben. First things first!

Gute Rechtssetzung ist ein Handwerk, das man lernen und lehren kann. Digitale Werkzeuge eröffnen hier Chancen, auch nach den derzeit gültigen Regeln des verfassten Rechtsstaats. Wir müssen nur ihren Gebrauch erlernen, und sie dann auch nutzen.

Weiterführendes von ÖFIT:

»Recht Digital – Maschinenverständlich und automatisierbar«

Der vorliegende Impuls zeigt auf, welche sozio-technischen Aspekte in der Entstehung des digitalen Rechts zu berücksichtigen sind und wie der Rechtsetzungsprozess adaptiert werden kann, um eine Grundlage für die (Teil-)Automatisierung der Rechtsanwendung zu legen.

Recht Digital – Maschinenverständlich und automatisierbar

Resa Mohabbat Kar, Basanta E. P. Thapa, Simon Sebastian Hunt, Peter Parycek (2019)

Berlin: Fraunhofer FOKUS: Kompetenzzentrum Öffentliche IT

»(Un)Berechenbar? Algorithmen und Automatisierung in Staat und Gesellschaft«

Die 24 Beiträge dieses Sammelbandes thematisieren Veränderungsprozesse von Staatlichkeit und Öffentlichkeit im Kontext der Algorithmisierung und Automatisierung von Entscheidungsverfahren und Handlungsvollzügen in Politik und Gesellschaft. Dabei werden politische, demokratietheoretische, rechtliche und ethische Fragestellungen beleuchtet.

(Un)Berechenbar? Algorithmen und Automatisierung in Staat und Gesellschaft

Resa Mohabbat Kar, Basanta E. P. Thapa, Peter Parycek (2018)

Berlin: Fraunhofer FOKUS: Kompetenzzentrum Öffentliche IT


Veröffentlicht: 20.09.2021