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Holokratie

  Bibliographische Angaben

Holokratie

Autorinnen / Autoren:
Michael Stemmer
Zuletzt bearbeitet:
Nov 2016
Titel:
Holokratie
Trendthema Nummer:
42
Herausgeber:
Kompetenzzentrum Öffentliche IT
Titel der Gesamtausgabe
ÖFIT-Trendschau: Öffentliche Informationstechnologie in der digitalisierten Gesellschaft
Erscheinungsort:
Berlin
Autorinnen und Autoren der Gesamtausgabe:
Mike Weber, Stephan Gauch, Faruch Amini, Tristan Kaiser, Jens Tiemann, Carsten Schmoll, Lutz Henckel, Gabriele Goldacker, Petra Hoepner, Nadja Menz, Maximilian Schmidt, Michael Stemmer, Florian Weigand, Christian Welzel, Jonas Pattberg, Nicole Opiela, Florian Friederici, Jan Gottschick, Jan Dennis Gumz, Fabian Manzke, Rudolf Roth, Dorian Grosch, Maximilian Gahntz, Hannes Wünsche, Simon Sebastian Hunt, Fabian Kirstein, Dunja Nofal, Basanta Thapa, Hüseyin Ugur Sagkal, Dorian Wachsmann, Michael Rothe, Oliver Schmidt, Jens Fromm
URL:
https://www.oeffentliche-it.de/-/holokratie
ISBN:
978-3-9816025-2-4
Lizenz:
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (CC BY 3.0 DE) http://creativecommons.org/licenses/by/3.0 de/legalcode. Bedingung für die Nutzung des Werkes ist die Angabe der Namen der Autoren und Herausgeber.

Holokratie – wenn alle mitreden und mitbestimmen und trotzdem etwas Gescheites dabei herauskommt? Die zukünftige Organisationsform der digital transformierten Welt? Oder nur eine Sternschnuppe am Consulting-Himmel, die über kurz oder lang verglüht?

Transparenz und Partizipation auf allen Ebenen

Unsere moderne digitalisierte, vernetzte und globalisierte Welt ist hoch komplex und verändert sich mit einer immer stärker werdenden Dynamik. Vor diesem Hintergrund geraten überlieferte und etablierte Gestaltungs-, Führungs- und Steuerungsparadigmen an ihre Grenzen. Dies gilt im Großen – in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung – wie im Kleinen – bei Unternehmen, Teams, Projekten und Initiativen. Die digitale Dynamik und Vernetzung erfordert agile und flexible Entscheidungsstrukturen, denen klassische Planungsansätze sowie hierarchische und statische Organisationsformen immer weniger gerecht werden. Ist Holokratie die Lösung?

Holokratie ist ein vergleichsweise junger und radikaler Strukturansatz, der Transparenz und Partizipation auf allen Ebenen einer Organisation zum Kernprinzip der Entscheidungsfindung macht. Die grundlegende Idee ist, Entscheidungskompetenz und Sachkompetenz optimal aufeinander auszurichten und zusammenzubringen (integrative Entscheidungsfindung). Eine holokratische Organisation besteht daher aus einer Struktur von vertikal (hierarchisch) und horizontal (heterarchisch) verknüpften Kreisen (Circles). Die Kreise setzen sich aus Mitarbeitern zusammen, denen jeweils über Rollen bestimmte Funktionen zugewiesen sind. Die Verknüpfung der Kreise geschieht über die Mitgliedschaft von Mitarbeitern in mehreren Kreisen. Hierfür werden Mitglieder von ihren Kreisen als Vertreter in andere Kreise gewählt. Jede Funktion einer holokratischen Organisation ist entweder einem Kreis oder einer Rolle in einem Kreis zugeordnet. Klassische Bereiche, Abteilungen, Gruppen, Stäbe und Führungsfunktionen gibt es nicht mehr.

 
Verknüpfung von Kreisen innerhalb einer holokratischen Organisation
 

Das Konsent-Prinzip

Jede Entscheidung einer holokratischen Organisation wird in einem zuständigen Kreis getroffen. Hierbei gilt das Konsent-Prinzip (im Unterschied zum Konsens-Prinzip): Jedes Mitglied eines Kreises argumentiert ausschließlich aus seiner Rolle heraus. Der Konsent des Kreises ist hergestellt, wenn kein Mitglied einen aus seiner Rolle begründeten, validen sachlichen Einwand mehr hat. Keine begründete Ablehnung bedeutet Zustimmung. So lässt sich schnell zu Entscheidungen kommen, die jederzeit, wiederum unter Anwendung des Konsent-Prinzips, revidiert werden können, wenn sie sich z.B. in der Praxis als falsch erweisen oder neue Informationen vorliegen. Allerdings ist dabei ein Blockieren nicht ausgeschlossen. Im Extremfall spricht man dann vom Zusammenbruch des Konsent-Prinzips, was ein Neuaufsetzen der Holokratie, also eine nicht-holokratische, externe Intervention, erforderlich macht. Auch kann man den holokratischen Entscheidungsansatz als „naiv" kritisieren, da er individuelle Interessen außerhalb der jeweils eingenommenen Rollen, Machtfragen und Verhandlungstaktiken nicht berücksichtigt.

Der Begriff der Holokratie greift zurück auf die Begriffe des Holons und der Holarchie, die Ende der 1960er Jahre von Arthur Koestler geprägt wurden: Systeme und ihre Bestandteile sind immer zugleich Ganzes (holos) als auch Teil eines Ganzen (-on). Sie sind in dieser Sicht stets in Holarchien (als Umwelt) eingebettete Holonen, die sich wiederum aus holarchisch angeordneten Holonen (als Komponenten) zusammensetzen. Dieses Koestler'sche Konzept wird bereits seit den 1990er Jahren in verschiedenen Forschungsaktivitäten aufgegriffen und adaptiert, beispielsweise für intelligente Produktionssysteme, fraktale Organisationen, Business Process Engineering, Multiagentensysteme und die integrative Entwicklung von Organisations- und Softwaresystemen. Eine wesentliche Grundlage der Ideen zur Holokratie sind zudem die Arbeiten zur Soziokratie, die ebenfalls bis in die 1960er Jahre zurückreichen und auf gruppenbasierte Entscheidungen setzen.

Begriffliche Verortung

Netzwerkartige Verortung des Themenfeldes
Gesellschaftliche und wissenschaftliche Verortung

Geschäftsmodell für Beratungsprojekte

Für die Bewertung der Holokratie ist zu berücksichtigen, dass es sich nicht nur um einen konzeptionellen Ansatz handelt, sondern auch um eine kommerzielle Systematik verbunden mit einem Geschäftsmodell für Beratungsprojekte. Es ist daher wichtig zu unterscheiden zwischen:

- holonischen Organisations- und Governance-Formen,

- dem konzeptionellen Holokratie-Ansatz und

- der kommerziellen HolacrazyOne-Systematik und -Methodik.

Holonische Prinzipien können auch genutzt werden, ohne eine Holokratie einzuführen, und holokratische Strukturen können aufgebaut werden, ohne die kommerzielle Systematik zu nutzen.

Das übergreifende holonische Paradigma gestattet es, auch auf den ersten Blick widersprüchliche Anforderungen und Elemente, wie z.B. Agilität vs. Stabilität, technische vs. menschliche Aufgaben oder zentrale vs. dezentrale Steuerung, ganzheitlich in einem gemeinsamen konzeptuellen Rahmen zu verbinden. Die Holokratie hingegen begnügt sich nicht mit diesem integrativen Ziel, sondern legt sich auf ein disruptiv neues Entscheidungs- und Organisationsmodell fest. Sie kann daher als spezifische und radikale Form einer holonischen Organisation verstanden werden.

Die holonischen und holokratischen Ideen, Prinzipien und Ansätze adressieren auf konzeptueller und systemischer Ebene die Grundprobleme moderner Governance in einem immer komplexer und dynamischer werdenden und sich immer stärker vernetzenden digitalisierten Umfeld (siehe Internet der Dinge). Über erste pionierhafte Umsetzungen hinaus müssen sie ihre Praxiseignung aber noch belegen. Wie bei vielen visionären Ansätzen besteht die Gefahr einer Verabsolutierung und Ideologisierung – insbesondere im Hinblick auf das radikale Konzept der Holokratie – aber auch die Chance einer pragmatischen und situativen Nutzung als zusätzliche Lösungsoption.

Themenkonjunkturen

 
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Folgenabschätzung

Möglichkeiten

  • Schnellere Entscheidungen
    (Start-up-Kultur)
  • Agilität
  • Flexibilität
  • Offenheit
  • Transparenz
  • Partizipation
  • Attraktivität für „Knowledge Worker" und „Digital Natives"
  • Pragmatische und situative Nutzung als zusätzliche Lösungsoption

Wagnisse

  • Verantwortungsdiffusion
  • Blockaden
  • Zusammenbruch des Konsent-Prinzips
  • Fehlende Akzeptanz bis hin zum Verlust von Mitarbeitern und Führungskräften
  • Noch kaum valide Evidenz für das Funktionieren in der Praxis
  • Gefahr der Verabsolutierung und Ideologisierung

Handlungsräume

Neue Governance-Paradigmen und -Formen fördern

Die Probleme einer digitalisierten Welt lassen sich immer weniger allein mit klassischen Planungs- und Steuerungsansätzen lösen. Es sind neue Governance-Paradigmen und -Formen nötig, zu denen die holonischen und holokratischen Konzepte wichtige Impulse liefern können. Insbesondere hinsichtlich der digitalen Transformation sollten Freiräume geschaffen werden, um moderne Governance-Modelle erproben und einsetzen zu können.

Ganzheitliche und adaptive Strukturen etablieren

Mit der digitalen Dynamik können starre, hierarchisch geführte Organisationen kaum noch Schritt halten. Vonnöten sind vielmehr ganzheitliche und adaptive Strukturen. Holonen und Holarchien bieten hierfür ein konzeptuelles Fundament, Holokratien darüber hinaus einen konkreten, aber auch radikalen Gestaltungsvorschlag.

 

Offenheit, Transparenz und Partizipation stärken

Die digitalisierte Welt ermöglicht eine neue Qualität an Offenheit, Transparenz und Partizipation, auf die sie für ihre Gestaltung, Führung und Steuerung zugleich angewiesen ist. Die Gewährleistung dieser Prinzipien wird daher in einer digitalisierten Gesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung und ihren Institutionen und Organisationen mehr denn je zum Thema.