Andere Länder machen es längst vor
Andere Länder machen es längst vor. Vertrauen als DNA für den digitalen Staat
Gastbeitrag von Dr. Florian Hartleb
Der Passauer Politologe Florian Hartleb ist seit Jahren Grenzgänger zwischen den Berufsfeldern Wissenschaft, Politikberatung und Journalismus – als Gastprofessor und Honorardozent an diversen Hochschulen ebenso wie als Experte für Behörden bei öffentlichen Anhörungen zu den Themenfeldern Extremismus und Digitalisierung. In den letzten Jahren hat er zahlreiche Delegationen betreut, vom Vorstand der Bertelsmann-Stiftung über die Führungskräfte der Deutschen Bundesbank bis hin zu einzelnen Landkreisen. Er lebt seit 2014 in Estland.
Alles wird digitalisiert, selbst in den alten Industrien
Die Bedeutung der Digitalisierung kann nicht hoch genug eingestuft werden. Sie hat einen ebenso großen Einfluss auf unsere Lebens- und Arbeitswelt wie einst die Industrielle Revolution. Ebenso wie diese vor 200 Jahren in die Industriegesellschaft führte, sprechen wir jetzt von Digitaltechnik und Automatisierungsprozessen bis hin zur künstlichen Intelligenz. In sämtlichen Bereichen, besonders bei Zahlungsdienstleistungen, Automobilität, Handel, Gesundheit und Bildung werden neue Potenziale wie Wachstumschancen ausgelotet. Die Automatisierungsprozesse werden durch Big Data und künstliche Intelligenz flankiert, die Kundenverhalten genau analysieren, etwa durch Algorithmen. Die Psychologie spielt dabei eine besondere Rolle – gerade auch die Frage, wie Bedürfnisse zu kalkulieren sind bzw. verzerrt werden können. Dabei geht es um integrative Lösungen. Jede Dienstleistung wird digitalisiert, sogar in den »alten Industrien«.
Ticken die Deutschen in Papier?
Umso erstaunlicher: Deutschland, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, gilt längst als rückständig, vor allem aufgrund anachronistischer und analoger Verfahren. Die Ankündigungen des digitalen Rucks sind da, doch kryptisch wird es, wenn es um konkrete Umsetzungen und daraus ableitbare Erfolge geht. Gerade wurde das E-Rezept-Team im Bundesgesundheitsministerium aufgelöst. Im Ausland heißt es mit einem leichten Schmunzeln: »Die Deutschen ticken in Papier.« Oder: »In Deutschland ist das Papier sakrosankt.« Für manche wirkt Deutschland wie ein Museum, wie Venedig. Der Status quo insbesondere der Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland ist höchst unbefriedigend. Ein Mitarbeiter in einem Landratsamt in Baden-Württemberg drückte in einer Diskussion im November 2020 seinen Frust aus, als ich über Möglichkeiten und Chancen der Online-Verwaltung referierte. Aus ihm platzte es förmlich heraus: »Es geht doch alleine darum, den gordischen Knoten der Verhinderung endlich zu zerschlagen. Sonst gibt es keinen Fortschritt, und wir diskutieren in 10, 20 Jahren immer noch die gleichen Fragen, die wir bereits seit 10, 20 Jahren diskutieren. Hunderte Mal wurde die digitale Verwaltung versprochen, aber durch die Datenschutzbehörden einkassiert.« Es sei zum Verzweifeln, wenn sämtliche Lösungen unter Verweis auf den Datenschutz im Papierkorb verschwänden. Die öffentliche Verwaltung macht einfach so weiter, als wäre nichts geschehen. Dabei sei die Veränderung der Ausbildung, Berufe, Geschäftsmodelle und Kommunikationswege überall mit den Händen zu greifen.
Druck durch die Pandemie
Was vielfach nur überlegt worden war, realisierte sich dann doch unter den Zwängen der COVID-19-Pandemie – eine bleierne Zeit ohne schnelle Exit-Strategie – innerhalb von wenigen Wochen: Homeschooling, Homeoffice, flexible Arbeitszeitmodelle und Videokonferenzen. Doch bringt der »alternativlose« Zwang auch einen Digitalisierungsschub durch die Güter »Vertrauen und Transparenz«? »Digitaler Erfolg« hängt nicht zuletzt davon ab, wie man Digitalisierung versteht und welche Ziele mit der Digitalisierung verfolgt werden. Vor allem fehlt es an einer sektorübergreifend nutzbaren Online-Ausweisfunktion (eID-Lösung). Weder konnten sich die Onlinefunktionen des Personalausweises noch elektronische Signaturen durchsetzen. Im Zeitalter der Globalisierung und einer neuen Unübersichtlichkeit ist Deutschland ein Wettbewerbsnachteil entstanden.
Manko: keine einheitlichen Lösungen
Andere Länder – gerade in Nordeuropa – sind hier viel weiter, wie vergleichende Studien zum E-Government, zum Breitbandausbau und zur digitalen Bildung zeigen. Hier ist immer wieder von Estland die Rede, ein kleines Land im Nordosten Europas, das vor einem Jahrzehnt ganz auf Digitalisierung setzte und nun im Weltmaßstab bewundert wird. Eine erprobte Dateninfrastruktur, die X-Road, eine etablierte und weit verbreitete digitale Identität sowie seit langem etablierte digitalisierte Prozesse bei öffentlichen Dienstleistungen, im Gesundheitswesen und im Bildungssektor haben die estnische Gesellschaft unter den Bedingungen der Kontaktreduktion deutlich krisenfester gemacht. Das E-Rezept gehört längst zum Alltag, ebenso wie viele andere hunderte Dienstleistungen. Die Steuererklärung für Privatpersonen funktioniert per Mausklick, das E-Voting ist seit 2005 möglich. Viel wichtiger und lebenserhaltend: Vernetzte Lösungen wurden im Gesundheitswesen geschaffen, wenn etwa die Daten der Patientinnen und Patienten bereits vom Krankenwagen in das Krankenhaus gelangen.
Vertrauen durch Bürgernähe
Dies liegt wohl auch daran, dass das estnische Modell die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum der öffentlichen Verwaltung rückt. Diese erhalten effiziente Dienstleistungen und erlangen gleichzeitig die Kontrolle über ihre Daten. Es ist eben nicht ausreichend, analoge Verwaltungsschritte bloß im Internet oder per App anzubieten. Erst wenn verschiedene öffentliche und private Stellen miteinander Daten austauschen, erhalten die Bürgerinnen und Bürger wirklich Mehrwert. Sind die Daten einmal angelegt, läuft in Estland vieles automatisch, etwa und besonders signifikant bei der individuell vorausgefüllten Steuererklärung. Innerhalb weniger Wochen ist der Prozess der Steuererklärung mitsamt der Rückzahlung abgeschlossen.
Wenn Online-Behördenangebote datensparsam arbeiten, erhöht das ebenfalls das Vertrauen auf Bürgerseite. Behörden können nur auf Informationen zugreifen, die für sie bestimmt sind. Zugleich können Bürgerinnen und Bürger aber auch jede Datenabfrage nachverfolgen (»truth-by-design«). Userinnen und User können per Log-Datei immer einsehen, wer wann welche Informationen abgefragt hat. Missbräuchliche Zugriffe, sollten sie erfolgen, werden streng geahndet. Es herrscht also Transparenz: Bürgerinnen und Bürger in Estland können beispielsweise online prüfen, wann die Polizei über das Kfz-Kennzeichen ihre Daten abgefragt hat. Auch Bearbeitungsstände können im Internet eingesehen werden. Insgesamt wird diese Möglichkeit nur recht wenig genutzt, allein ihr Bestehen scheint schon auszureichen. Zudem werden Verfehlungen streng geahndet, mit harten Strafen bis zu Berufsverboten bei missbräuchlichen Datenzugriffen.
E-Bildung als Schlüssel
Bereits seit 1999 hatte die estnische Regierung die Digitalisierung der Bildungseinrichtungen konsequent vorangetrieben, alle Schulen an das Internet angeschlossen, mit interaktiven Smartboards, PCs und Tablets ausgestattet, E-Learning-Unterrichtsmaterialien erstellen lassen, Schulbücher digitalisiert. Zudem wurde mit »eKool« ein Schul-Management-System eingeführt, das nicht nur die Schulverwaltung, sondern auch viele Funktionalitäten für Schülerinnen, Schüler und Eltern umfasst, wie ein digitales Aufgabenheft, Lernmaterialien, Noten- und Leistungsübersicht und mehr. Bei der letzten Pisa-Studie belegte das Land in Europa den Spitzenplatz.
Once-Only als Königsweg
Das konsequent umgesetzte »Once-only«-Prinzip – also die einmalige staatliche Abfrage und Speicherung von Daten – bildet die Grundlage zur breiten Akzeptanz der X-Road, ein 2003 eingeführtes zentrales System innerhalb von dezentralen digitalen Plattformen (eesti.ee). Die X-Road ist das Schlüsselelement für die Digitalisierung in Estland. Die Dateninfrastruktur wird von der staatlichen Informationssystembehörde betrieben. Zunächst wurde das System konstruiert, um Abfragen an andere behördliche Datenbanken zu senden. Heute sind über 900 Organisationen und Datenbanken vertraglich über die X-Road verknüpft. Seit 2007 verbietet der Public Information Act eine doppelte Erfassung von Verwaltungs- oder Meldesystem-Daten. Er zwingt damit u.a. Behörden zu einem Austausch von Informationen mit anderen Behörden oder dem Privatsektor. Im System von X-Road gibt es keine doppelt gespeicherten Datensätze, diese sind per Gesetz verboten. Wer X-Road benutzt, stellt sich den gewünschten Datensatz über Anfragen an die jeweiligen Behörden zusammen. Die über die X-Road verknüpften Organisationen tauschen auf der Basis von geregelten Einzelvereinbarungen Informationen aus.
Es zeigt sich, dass der digitale Wandel ganz unaufgeregt und geräuschlos vollzogen werden kann. »Just do it«, nach dem berühmten Werbeslogan. Wer aber auch in Zukunft Einzellösungen mit isolierten Daten betreibt, wird den Anschluss verlieren. Der Staat läuft Gefahr, seine Aufgabe, dem Gemeinwohl zu dienen, nicht mehr vollumfänglich erfüllen zu können. Immerhin sollte der Grundsatz gelten, »der Staat ist für den Menschen da.« Gerade im Verhältnis zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern muss eine neue Vertrauenskultur entstehen, die weit mehr umfasst, als Dokumente online zur Verfügung zu stellen. Digitalisierung muss zur staatlichen Kernkompetenz gehören. Wichtig ist, dass digitale Technologien und vor allem auch ihr Einsatz im öffentlichen Sektor wie in Estland in der breiten Bevölkerung akzeptiert sind. Dies gilt auch für ältere Menschen.
Reale Umsetzungen durch Vertrauen statt Krypto
Prominente Verwaltungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in Deutschland konstatieren, dass eine konsequente Once-Only-Strategie die Bürgerinnen und Bürger von Bürokratiekosten entlasten und die Verwaltung in eine benutzerfreundliche digitale Zukunft führen kann. Klar ist aber, dass der Gesetzgeber die in der Bevölkerung verbreitete Sorge vor einer unbegrenzten und unkontrollierbaren staatlichen Datensammlung ernst nehmen muss. Am besten gelingt diese Vertrauensbildung, wenn der Bürger jederzeit Herr über die eigenen Daten bleibt. Bürgerinnen und Bürger müssen also das Heft des Handelns in der Hand behalten.
Dazu gehört auch und vor allem Transparenz der Datenverwendung: Eine (ungefragte) Offenlegung und Protokollierung, welche Behörden welche Daten wann und zu welchem Zweck abgerufen haben bzw. verwenden, stärkt das verfassungsrechtlich umhegte Bedürfnis, selbst über die Verwendung seiner Daten bestimmen zu können. Vielleicht trägt der verantwortungsvolle Umgang zwischen Bevölkerung und Staat auch dazu bei, dass Bürgerinnen und Bürger weniger leichtsinnig ihre Daten an Privatkonzerne weitergeben. Der Staat kann und muss hier durch vernetzte Lösungen besser werden. Hier geht es schlicht und einfach um Vertrauen, nicht um Kryptowährungen und problematische Apps wie Luca. Sonst droht Deutschland, vom Bund über die Länder bis hin zu den Kommunen, der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit. »Uns geht es ja noch so gut« – heißt es immer noch in ernüchternd stimmenden Beratungsprojekten, die etwa für die digitale Brücke nach Estland werben. Doch wie lange geht das noch?
In seinem im FAB-Verlag erschienenen Buch »Plädoyer für den digitalen Staat« beschreibt Dr. Florian Hartleb den Stand der Digitalisierung in Estland und führt aus, wie die digitale Transformation auch in Deutschland gelingt.
Weiterführendes von ÖFIT:
Vortrag: Once Only 2.0 Plattform
Der Once Only 2.0-Showcase zeigt anhand der Beispiele Umzug und Start-up-Gründung, wie Daten aus zivilrechtlichen Transaktionen auch für die Verwaltung nutzbar gemacht werden können und Verwaltungsdaten wiederum privaten Akteuren zur Verfügung gestellt werden.
Berlin: Fraunhofer FOKUS: Kompetenzzentrum Öffentliche IT
Zum DokumentDer Staat auf dem Weg zur Plattform
Plattformen übernehmen in immer mehr Bereichen ähnliche Aufgaben wie Staaten und klassische (öffentliche) Institutionen. In diesem Papier gehen wir der Frage nach, wie der Staat die durch Plattformen geschaffenen Organisationspotenziale für die Gemeinwohlsicherung und die Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen nutzen kann.
Berlin: Fraunhofer FOKUS: Kompetenzzentrum Öffentliche IT
Zur PublikationAnalyse der rechtlich-technischen Gesamtarchitektur des Entwurfs des Registermodernisierungsgesetzes
Diese Stellungnahme zum Entwurf des Registermodernisierungsgesetzes für den Bundestags-Ausschuss für Inneres und Heimat hebt hervor, wie sich durch Architekturelemente wie das 4-Corner-Modell, das Datencockpit und die einheitliche Identifikationsnummer Verwaltungsmodernisierung, Datensicherheit und -schutz vereinbaren lassen.
Berlin: Fraunhofer FOKUS: Kompetenzzentrum Öffentliche IT
Zur PublikationVeröffentlicht: 08.02.2022