Civic Tech: Langfristige Integration und kurzfristige Impulse
Civic Tech: Langfristige Integration und kurzfristige Impulse
Gastbeitrag von Dr. Andrea Hamm
Dr. Andrea Hamm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Gruppe »Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Teilhabe« am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft und im Projekt »InNoWest - Gemeinsam nachhaltig und digital in Nord-West-Brandenburg« an der Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde. Sie forscht interdisziplinär zwischen den Bereichen Mensch-Computer-Interaktion und Journalismusforschung. In Ihrer Transferarbeit beschäftigt sie sich mit der nachhaltigkeitsorientierten Digitalisierung von Kommunen. In ihrer aktuellen Arbeit interessiert sie sich für ein besseres Verständnis von Partizipationsformen in unterschiedlichen Kontexten von Digitalisierungsprojekten. Andrea Hamm promovierte im Fach Medieninformatik an der Freien Universität Berlin.
Editors Note: Diese Civic Tech-Blogreihe ist primär als Plattform für verschiedene Meinungen und Erkenntnisse aus der Civic Tech-Branche konzipiert. Ziel ist es, durch die Beleuchtung verschiedener Beispiele und Erfahrungen ein tieferes Verständnis von Civic Tech herzustellen und hierdurch zur erfolgreichen Kooperation mit der öffentlichen Hand beizutragen.
Ein Überblick über alle Beiträge dieser Reihe befindet sich hier: Blogreihe Civic Tech
Ob ein zivilgesellschaftlicher Zweck mithilfe von Civic Tech erfüllt werden kann, hängt unter anderem von der zeitlichen Ausgestaltung der Civic-Tech-Initiativen ab. Forschungen aus Großbritannien und Argentinien haben gezeigt, dass nur wenige Initiativen langfristig andauern und »Überlebensstrategien« gefunden haben. Dazu zählen beispielsweise die Sensor.Community aus Deutschland, ehemals Luftdaten.info, und Safecast aus Japan.
Viele andere kreative Civic-Tech-Initiativen haben nicht langfristig überdauert. Dabei besitzen die meisten von ihnen einen großen Mehrwert für die Demokratieentwicklung. Zu ihren Zielen zählen eine verbesserte politische Beteiligung und Diskussionskultur, wichtige Veränderungen im Umwelt- oder Verkehrsbereich anzustoßen oder gesellschaftliche Missstände sichtbarer zu machen. Ein Beispiel ist das ARD-Projekt »Unser Wasser«, in dem Bürger:innen Daten über den Rückgang der Gewässer während der Dürre in Deutschland im Jahr 2022 sammelten, die in einer interaktiven und informativen Datenkarte veröffentlicht wurden.
In diesem Beitrag werden zwei zeitliche Rahmen für Civic-Tech-Initiativen beleuchtet, anhand derer gesellschaftliche Potenziale und Herausforderungen beschrieben werden: langfristige Integration und kurzfristige Impulse von Civic Tech.
Der lange Weg zur langfristigen Integration von Civic Tech in die öffentliche Verwaltung
Die langfristige Integration von Civic Tech spielt eine große Rolle im Bereich der Government Technologies (GovTech), also der Bürgerdienste, öffentlichen Infrastruktur und digitalen Daseinsvorsorge. Behörden haben häufig mit dem Mangel an digital-versiertem Personal und fehlenden Kenntnissen zu kämpfen, sodass eine einfache Integration von unkonventionellen Civic-Tech-Lösungen, die außerhalb von Behörden entstehen, selten möglich ist. Damit die Integration gelingen kann, ist es nötig, Schnittstellen aktiv und vielseitig anwendbar zu gestalten. Neben technischen Schnittstellen, die langfristig nutzbar sein müssen, sind hiermit vor allem personelle und arbeitsorganisatorische Schnittstellen gemeint. Es müssen Positionen in Behörden geschaffen werden, die für engagierte Freiwillige aus dem Civic-Tech-Bereich ansprechend sind. Eine weitere Option sind Outsourcing-Verträge, die allerdings auch voraussetzen, dass lose, häufig nur digital zusammenhängende, Civic-Tech-Initiativen Rechtsformen annehmen müssen und ebenfalls mehr Verantwortlichkeiten übernehmen wollen.
Für engagierte Freiwillige sind Civic-Tech-Initiativen attraktiv, da sie das niedrigschwellige Erlernen von Digitalkompetenzen ermöglichen und einen kreativen sozialen Rahmen bieten. Insofern sind die Einbeziehung von Civic-Tech-Initiativen in politische Strategien und die Förderung von digitaler Bildung mögliche Wege, die langfristige Integration von Civic Tech umzusetzen. Die Beliebtheit einer Freiwilligen-Initiative leidet jedoch, wenn nach gewisser Zeit festgestellt wird, dass das ursprüngliche Ziel nicht erreicht werden kann oder der finanzielle und/oder der Arbeitsaufwand zu groß wird, um die Freiwilligenarbeit weiterzuführen.
Langlebige Civic-Tech-Initiativen, wie die Sensor.Community und Safecast, haben gezeigt, dass Offenheit und Dezentralität eine wichtige Rolle in Bezug auf das »Überleben« im Sinne einer flexiblen Gestaltbarkeit von Technik-Lösungen und der dauerhaften Motivation von Mitgliedern spielen. Dazu zählen sowohl das offene gemeinschaftliche Dokumentieren und Programmieren von Software als auch die Verteilung der technischen Entwicklungsarbeit auf mehrere dezentrale Teams. Durch diese Offenheit konnten die Civic-Tech-Initiativen auch die Ideen späterer Mitglieder mit einbeziehen. Sie entwickelten sich organisatorisch sowie technisch laufend weiter. Beispielsweise fing die zuvor nur auf Luftverschmutzung spezialisierte Sensor.Community an, sich mit dem Thema Lärmmessung zu beschäftigen. Safecast wurde nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima in Japan gegründet und spezialisierte sich auf Radioaktivitätsverschmutzung. Seit einigen Jahren engagieren sie sich außerdem im Bereich Luftverschmutzung.
Übertragen auf Kommunalverwaltungen ergibt sich die Frage, ob digitale Verwaltungsanwendungen auch dezentral – also von und für mehrere Kommunen – betrieben werden können. Dies hätte nicht nur den Vorteil, dass der Entwicklungs- und Wartungsaufwand verteilt werden könnte, sondern die verschiedenen Anforderungen und Bedürfnisse sich auch sinnvoll ergänzen würden und für alle beteiligten Kommunen einen Mehrwert bringen könnten. Aktuell finden sich jedoch zahlreiche rechtliche und verwaltungsorganisatorische Herausforderungen für dezentrale Verwaltungsanwendungen, beispielsweise in Bezug auf die geteilte Finanzierung der Entwicklungskosten, Ausschreibungsverfahren und Verantwortlichkeiten für die langfristige Pflege und Wartung.
Die Abkürzung? Kurzfristige Impulse durch Civic Tech
Kurzfristige Impulse sind von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, gesellschaftlich bedeutende Themen offenzulegen und zu diskutieren. Civic Tech unterstützt diesen Prozess und kann dazu beitragen, Diskussionen rationaler zu gestalten, indem beispielsweise zuvor nicht existente Daten erhoben und für die breite Bevölkerung zugänglich gemacht werden. Solche Daten können Argumente stützen, die vorher nicht messbar waren oder zu denen nur veraltete Daten vorlagen. Themen aus Civic-Tech-Initiativen können durch ihre mediale Vermittlung in den größeren gesellschaftlichen Diskurs übertragen werden und sogar Folgen bei anderen gesellschaftlichen Akteur:innen nach sich ziehen.
Das Radmesser-Projekt des Tagesspiegels zeigt sehr gut, wie Daten, die im Rahmen einer Civic-Tech-Initiative gesammelt und verfügbar gemacht werden, auch für die Justiz und Regulierung genutzt werden können. In diesem Projekt wurden mithilfe von 200 Freiwilligen über zwei Monate Abstandsmessungen von Überholmanövern zwischen Autos und Radfahrer:innen durchgeführt. Die neuartigen Sensorgeräte wurden zusammen mit Wissenschaftler:innen gebaut und getestet. Die dort erhobenen Daten wurden einer umfassenden Aufbereitung und Qualitätssicherung unterzogen, bevor sie als große Medienstory veröffentlicht wurden.
Diese Civic-Tech-Initiative zog zwei Impulse nach sich: Zum einen sind die Radmesser-Daten erneut von Behörden angefordert worden, als es um die Bewertung einer Klage gegen Pop-Up-Radwege in Berlin ging. Zum anderen wurde etwa ein Jahr nach Veröffentlichung der Radmesser-Story eine Änderung der Straßenverkehrsordnung (StVO) vorgenommen: Der in den Berichten häufig erwähnte Mindestabstand von 1,5 Metern wurde in der StVO festgeschrieben. Dieser war zuvor nur in Gerichtsurteilen nachzulesen. Die große Aufmerksamkeit konnte die Civic-Tech-Initiative einerseits durch den Zugang zu einem großen Publikumskanal, dem eines traditionellen überregionalen Mediums, erzielen. Andererseits speist sich die Wirkkraft aus den zeitgemäßen innovativen Daten und ihrer Aufbereitung zum Thema Radfahrsicherheit. Die Einbeziehung mehrerer Interessengruppen, also ko-kreative Arbeitsweisen mit Akteur:innen aus Wissenschaft, Journalismus und Zivilgesellschaft, stellt sicher, dass diverse gesellschaftliche Perspektiven bereits in die Planung und Durchführung der Civic-Tech-Initiative integriert sind. Dies erhöht die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit erhobener Daten und Ergebnisse.
Zusammen mit weiteren Technologien wie sozialen Medien und Messenger-Diensten kann die Kommunikation von und über städtische Daten eine partizipative Struktur für nachhaltige Städte und Kommunen schaffen. Eine Studie zu Fahrradzählern in mehreren US-Städten konnte zeigen, dass zivilgesellschaftliche Organisationen eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, städtische Daten für die Bürger:innen nutzbar und verständlich zu machen. An der Bürger:innen-Kommunikation in den sozialen Medien ist zu sehen, wie demokratische partizipatorische Strukturen außerhalb der formalisierten politischen Debatte (über große Medien) entstehen. Dies geschieht dadurch, dass Bürger:innen sich für Themen, die ihnen wichtig sind (z.B. Radfahren) engagieren und dazu Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Medien betreiben. Übergreifende gesellschaftspolitische Fragen bekommen mithilfe von bürger:innen-generierten Daten und der Möglichkeit, ihre Aussagekraft mitzuinterpretieren, eine neue Perspektive. Diese Perspektive, welche engagierte Bürger:innen aktiv einbindet, erleichtert auch eine langfristige öffentliche Verhandlung über Crowd-Sourced-Daten als eine Ressource, die in Kommunen beim Übergang zur Digitalisierung und Nachhaltigkeit helfen können.
Fazit
Für beide zeitlichen Rahmen gilt, dass - anders als der Begriff Civic Tech signalisiert - nicht die Technologien (z.B. Datenkarten oder offene Software) der zentrale Ankerpunkt sind, sondern die Menschen, welche die Civic-Tech-Initiativen entwickeln und voranbringen. Ziel der größeren gesellschaftlichen Nutzung von Civic Tech muss also sein, die Menschen, die sich in diesem Bereich engagieren, zu »halten« beispielsweise durch Unterstützung sowie Stellen und Angebote.
Die Beispiele für kurzfristige gesellschaftliche Impulse durch Civic Tech zeigen andererseits, dass ein dauerhafter Betrieb nicht in allen Fällen nötig ist. Wenn fortschrittliche Veränderungen durch kurzfristig erhöhte Aufmerksamkeit angestoßen werden können, hat Civic Tech in diesen Fällen mehr Ähnlichkeit mit datengestützten Informationskampagnen. Letztendlich ist es allerdings in den Bereichen Bürger:innendienste, öffentliche Infrastruktur und digitale Daseinsvorsorge unabdingbar, neue Schnittstellen zur funktionierenden Integration von Civic-Tech-Initiativen zu gestalten.
Quellen
Balestrini, M., Bird, J., Marshall, P., Zaro, A., & Rogers, Y. (2014). Understanding sustained community engagement: A case study in heritage preservation in rural Argentina. Proceedings of the 2014 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems, 2675–2684. https://doi.org/10.1145/2556288.2557323
Hamm, A. (2022). New Objects, New Boundaries: How the “Journalism of Things” Reconfigures Collaborative Arrangements, Audience Relations and Knowledge-Based Empowerment. Digital Journalism, 1–20. https://doi.org/10.1080/21670811.2022.2096088
Hamm, A., Shibuya, Y., Ullrich, S., & Cerratto Pargman, T. (2021). What Makes Civic Tech Initiatives To Last Over Time? Dissecting Two Global Cases. Proceedings of CHI Conference on Human Factors in Computing Systems (CHI ’21). CHI Conference on Human Factors in Computing Systems, Yokohama, Japan. https://doi.org/10.1145/3411764.3445667
Le Dantec, C.A. (2019). Infrastructures of Digital Civics: Transportation, Advocacy, and Mobile Computing. In: Korn, M., Reißmann, W., Röhl, T., Sittler, D. (eds) Infrastructuring Publics. Medien der Kooperation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-20725-0_8
Taylor, N., Cheverst, K., Wright, P., & Olivier, P. (2013). Leaving the wild: Lessons from community technology handovers. Proceedings of the SIGCHI Conference on Human Factors in Computing Systems, 1549. https://doi.org/10.1145/2470654.2466206
Schrock, Andrew R. (2019). “What is civic tech? Defining a practice of technical pluralism,” in The Right to the Smart City. Editors Cardullo Paolo, Feliciantonio Cesare Di, and Kitchin Rob (Bingley, England: Emerald), 125–133.
Shibuya, Y., Hamm, A., & Raetzsch, C. (2021). From Data to Discourse: How Communicating Civic Data Can Provide a Participatory Structure for Sustainable Cities and Communities. Proceedings of the 27nd ISDRS ’21. International Sustainable Development Research Society Conference, Östersund. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-74871-6
Ein Überblick über alle Beiträge dieser Reihe befindet sich hier: Blogreihe Civic Tech
Weiterführendes von ÖFIT:
Verwaltung auf der grünen Wiese - Szenarien alternativer digitaler Organisationsformen des Staates
Diese Studie präsentiert vier Szenarien mit alternativen Organisationsformen der öffentlichen Verwaltung. Jene Verwaltungswelten beruhen auf der heutigen deutschen Gesellschaft und dem aktuellen Stand der Technik, lösen sich aber darüber hinaus von historischen Pfadabhängigkeiten der Verwaltung wie etwa Rechtsrahmen, Berufskultur, gewohnten Vorgehensweisen und der gewachsenen Behördenlandschaft. Die Szenariostudie soll den Horizont der Debatte zur Verwaltungsmodernisierung erweitern, indem sie mit extremen Gedankenexperimenten den Status quo fundamental infrage stellt und alternative Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigt. Die Verwaltungswelten entstanden über drei virtuelle Workshops mit rund zwanzig Expert:innen in einem an die Szenariomethode angelehnten Vorgehen.
Digitales Engagement - Analyse der Förderprogramme auf Bundesebene
In der Bedeutung immer noch unterschätzt, leistet digitales Engagement einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag. Eine Analyse von 34 Fördermaßnahmen auf Bundesebene hat ergeben, dass die Bundespolitik den digitalen Wandel als relevante Einflussgröße und Chance für bürgerschaftliches Engagement zwar anerkennt, in der Förderpraxis jedoch nicht systematisch und breitenwirksam berücksichtigt.
Open Data - zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Open Data soll die Zusammenarbeit zwischen Behörden verbessern, die Transparenz von Politik erhöhen und neue Geschäftsmodelle ermöglichen. Die Ansprüche an die Verwaltung sind hoch, doch bei der Umsetzung zeigen sich Hürden. Kritiker führen an, dass offene Daten nur selten genutzt werden. Grund genug, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Anhand von vier europäischen Metropolen arbeiten wir in dieser Studie nicht nur Unterschiede in der Umsetzung von Open Data heraus, sondern gehen auch auf die jeweilige Nutzung ein. Was passiert, wenn politische Versprechen auf Verwaltungswirklichkeit treffen? Wir laden Sie zur Beantwortung dieser Frage auf eine Reise nach London, Hamburg, Berlin und Wien ein. Unterwegs erfahren Sie, wie Open-Data-Ökosysteme entstehen und was für eine erfolgreiche Umsetzung von Open Data ausschlaggebend ist.
Veröffentlicht: 09.11.2023