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Die Landkreisverwaltung der Zukunft: ein Blick auf die Organisation

Die Landkreisverwaltung der Zukunft: ein Blick auf die Organisation

von Clementine Bertheau

Wie kann die digitale Landkreisverwaltung der Zukunft aussehen? Hierzu entwickelten Studierende der Universität Potsdam im Wintersemester 2018/2019 in einem Praxisseminar des Lehrstuhls für Public und Nonprofit Management unter Anleitung von Caroline Fischer in drei Gruppen Szenarien für den Landkreis Havelland. Die Szenarien fokussieren jeweils die Perspektive der Bürger:innen, der Mitarbeiter:innen oder auf die Aufbau- und Ablauforganisation der Verwaltung. In diesem Beitrag beschreibt Clementine Bertheau das Vorgehen und die Ergebnisse ihrer Projektgruppe zum Thema Organisation.

Ausgangslage

Wenn man durch die Digitalisierung ausgelöste organisationale Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung in den Blick nimmt, werden in vielen Fällen Prozesse betrachtet und nur selten die Aufbauorganisation hinterfragt. Diese scheint bisweilen unveränderlich. Wenn der Dampfer erst einmal in Bewegung gekommen ist, scheint ein Kurswechsel unmöglich - Hierarchien und Berichtslinien sind starr und ermöglichen wenig Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit. Wir, ein transdisziplinäres Team aus Studierenden der Verwaltungswissenschaften und der Wirtschaftsinformatik der Universität Potsdam, haben uns gefragt, ob das nicht auch anders geht. Im Rahmen eines studentischen Beratungsprojektes für die Landkreisverwaltung Havelland haben wir uns der Reorganisation der Verwaltung im Zuge der Digitalisierung gewidmet. Wir wollten dabei herausfinden, welche Potenziale zur Veränderung in einer solchen Verwaltung bestehen. Zu diesem Zweck haben wir die Aufbau- und die Ablauforganisation gleichermaßen betrachtet. Unsere Teamkonstellation sollte uns dabei helfen, verschiedene Perspektiven auf das Thema einzunehmen und viele Facetten zu beleuchten. Die enge Zusammenarbeit mit der Kommune hat uns tiefe Einblicke in die Prozesse und den Aufbau der Verwaltung ermöglicht und eine wertvolle Lernerfahrung geboten.

Abbildung 1: Das interdisziplinäre Projektteam

Projektvorgehen

Zum Projektstart haben wir uns zunächst auf ein Begriffsverständnis von Digitalisierung geeinigt. Das erschien uns sinnvoll, insbesondere, weil wir aus unterschiedlichen Fachkontexten kamen. Im Ergebnis konnten wir für uns festhalten, dass Digitalisierung die Veränderung von Prozessen, des Produkt- und Dienstleistungsangebotes sowie der Kommunikationswege mithilfe von modernen Technologien bedeutet. Im nächsten Schritt wollten wir betrachten, was so ein Landkreis eigentlich macht. Die Mehrzahl von uns ist in kreisfreien Städten aufgewachsen. Die Ebene des Landkreises ist dadurch nur wenig greifbar. Das Verständnis mussten wir uns glücklicherweise nicht aus Lehrbüchern theoretisch erarbeiten, sondern konnten es durch Gespräche mit Mitarbeiter:innen in der Verwaltung erlangen. Wir merkten dadurch schnell, wie wichtig der Praxisbezug für die Kontextualisierung der im Studium vermittelten Inhalte ist. Auf Basis unseres Verständnisses der Landkreisverwaltung suchten wir uns vier ausgewählte interne Prozesse mit unterschiedlicher Komplexität und in verschiedenen Lebenslagen im Sinne des OZG-Umsetzungskatalogs aus und gingen ins Gespräch mit den Mitarbeiter:innen des Landkreises. Ziel unserer qualitativen Interviews war es einerseits, die aktuellen Prozessabläufe zu erfassen, andererseits aber auch bereits unternommene Bemühungen zur Digitalisierung der Verwaltungsverfahren herauszuarbeiten. Zudem sollten Digitalisierungspotenziale identifiziert werden.

Abbildung 2: Beispielprozess Beschaffung aus dem Landkreis Havelland
Abbildung 3: Beispielprozess Elterngeld aus dem Landkreis Havelland

Wie erwartet, konnten wir viele Potenziale erkennen. Um jedoch einen objektiveren und realistischeren Blick auf die Möglichkeiten der Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung zu erhalten, haben wir neben der Prozesserhebung nationale und internationale Best Practices der letzten zehn Jahre auf allen Verwaltungsebenen recherchiert. Viele der Fälle waren uns bereits bekannt – die Leuchtturmprojekte aus Estland und Dänemark beispielsweise – und daher blieben »Aha-Momente« eher eine Randerscheinung. Auffallend war zudem, dass zum einen nur wenige Fälle aus Landkreisen zu finden waren und zum anderen die Aufbauorganisation in den meisten Fällen nicht betroffen war. Zwei Beispiele, die für unsere Betrachtung interessant erschienen, schauten wir uns dann aber genauer an und interviewten zuständige Personen: In der Stadt Rietberg wurde die für das digitale Baugenehmigungsverfahren sonst so unüberbrückbare Hürde des Schriftformerfordernisses durch guten Willen einfach überwunden. In der Stadt Sindelfingen wurde ein Amt für Digitalisierung eingerichtet, sodass tatsächlich personelle Ressourcen für die Umsetzung von Maßnahmen bereitstehen. Beides zeugt von Umsetzungswillen und Mut.

Abbildung 4: Projektvorgehen

Szenarien

Auf Basis der Erkenntnisse aus der Best-Practice- und der Prozessanalyse haben wir schließlich in Kombination mit unserem Hintergrundwissen in mehreren Kreativworkshops eine Szenariomatrix entwickelt. Diese besteht aus zwei Achsen mit jeweils zwei gegenüberstehenden Extrempolen, sodass sich in ihrer Kombination vier Szenariofelder ergeben. Die Matrix bildet sowohl Aufbau- als auch Ablauforganisation ab. Die Achse der ablauforganisatorischen Ausprägung reicht von den Extrempolen einer »1:1 Digitalisierung« bis hin zu einer »fundamentalen digitalen Prozessneugestaltung« der Abläufe in der Landkreisverwaltung. Die Extrempole der aufbauorganisatorischen Entwicklungen prägen sich als »Linienorganisation« auf der einen und »agile Netzwerkorganisation« auf der anderen Seite aus.

Aus dieser Matrix lassen sich vier Szenarien ableiten: die bewegliche Projektverwaltung, die routinierte Kompetenzverwaltung, die Webersche Digitalverwaltung und schließlich die effiziente Fachverwaltung.

Abbildung 5: Szenariomatrix

Bewegliche Projektverwaltung

Das Szenario im ersten Quadranten, das unter Berücksichtigung der Extrempole »Agile Netzwerkorganisation« und »Fundamentale digitale Prozessneugestaltung« entsteht, ist die sogenannte Bewegliche Projektverwaltung. Die Landkreisverwaltung ist in diesem Szenario durch agil arbeitende Einheiten charakterisiert, die in interdisziplinärer Zusammensetzung Verwaltungsleistungen zu für den Landkreis relevanten Lebenslagen gemäß dem OZG-Umsetzungskatalog erbringen oder zu Querschnittsthemen der Verwaltung zusammenarbeiten. Jeder Verwaltungsvorgang wird als eigenes Projekt betrachtet, welches von einem Team von Anfang bis Ende verantwortet wird. In diesem Szenario werden die Prozessabläufe der Verwaltungsverfahren komplett digital neugestaltet. Zudem werden zu ernennende Agilitäts- und Digitalisierungslotsen in die Teams integriert, welche die Potenziale der Digitalisierung kontinuierlich mitdenken und Veränderungen in der Ablauforganisation vorschlagen.

Routinierte Kompetenzverwaltung

Im zweiten Quadranten der Matrix liegt das Szenario der Routinierten Kompetenzverwaltung. In diesem Szenario ist die Landkreisverwaltung nicht mehr in Fachbereiche organisiert, sondern Verwaltungseinheiten bilden sich nach der Art der verrichteten Arbeit aus (Kompetenzteams). Die Verwaltungsverfahren werden in bewährten, aber nun digital unterstützten Prozessen ausgeführt. Durch die veränderte Organisationsform ergeben sich jedoch andere Verantwortlichkeiten für die einzelnen Prozessschritte. Außerdem kommt es zu Veränderungen in der Hierarchie und aufgrund der veränderten Aufgabenverortung zu Veränderungen hinsichtlich der Entscheidungskompetenzen. Hierbei ist vor allem entscheidend, wie die bestehenden Prozesse dahingehend angepasst werden können, dass Entscheidungen nicht mehr »top-down«, sondern in den Kompetenzteams getroffen und verantwortet werden. Fachkräfte für Digitalisierung sind direkt in den jeweiligen Kompetenzteams unterstützend tätig. Diese Art der Reorganisation ist nicht empfehlenswert, da die Potenziale der Digitalisierung im Hinblick auf die Prozesse nicht ausgenutzt werden. In diesem Fall werden die Prozesse nur im Hinblick auf neue Aufbaustrukturen und nicht bezüglich der Ablaufstrukturen überdacht.

Webersche Digitalverwaltung

Aus den Extrempolen »1:1 Digitalisierung« und »Linienorganisation« ergibt sich das Szenario der Weberschen Digitalverwaltung. Dieses Szenario baut auf einer vielfach bewährten Organisationsform auf, die auf geordneten Strukturen, hierarchisch geprägten Verantwortlichkeiten und klaren Entscheidungskompetenzen beruht. Bewährte Prozesse werden durch digitale Techniken lediglich unterstützt und nicht neu organisiert, sodass sich in der Arbeitsorganisation, in der Arbeitsaufteilung und bei den Schnittstellen zwischen den einzelnen Verwaltungseinheiten nur wenige Veränderungen ergeben. Die jeweilige Verwaltungseinheit wählt mit ihrem Fachwissen die für sich optimal geeignete Lösung und setzt diese um. Damit werden die Potenziale der Digitalisierung nur wenig bis gar nicht ausgeschöpft, es ist eine sehr einfache Form der Digitalisierung.

Effiziente Fachverwaltung

Das vierte Szenario wird als Effiziente Fachverwaltung bezeichnet. Die effiziente Fachverwaltung ist durch die Fachspezifität der Verwaltungseinheiten und eine stark segmentierte und hierarchisierte Verwaltungsstruktur geprägt. Die Potenziale der Digitalisierung können nach einigen Iterationen der neuen Prozesse gut ausgeschöpft werden, da Prozesse auf Basis der digitalen Möglichkeiten fundamental neu gedacht wurden. Lähmend wirken allerdings die Verwaltungseinheiten übergreifenden Abstimmungsbedarfe, da Entscheidungswege in der Linienorganisation komplex sind. Für vergleichbare Standards und Grundlagen sorgt eine zentrale Stelle für Digitalisierung.

Handlungsempfehlungen

Mithilfe der Matrix können Kommunen ihren Stand der Digitalisierung im Hinblick auf ihre Organisation einschätzen. Die Matrix kann dann eine Unterstützung bei der Modernisierung einer Verwaltung darstellen, da sie aufweist, wie sich Verwaltungen weiterentwickeln können. Für unseren Projektpartner wäre aus unserer Sicht beispielsweise die mittelfristige Reorganisation in eine effiziente Fachverwaltung und langfristig in eine bewegliche Projektverwaltung erstrebenswert. So würden die Potenziale der Digitalisierung ausgenutzt werden und die Verwaltung wäre in der Lage, auf Veränderungen in der Umwelt besser zu reagieren. Diese Veränderungen können ganz unterschiedlicher Natur sein wie z. B. aktuell die Umsetzung von Coronamaßnahmen. Aktuell befindet sich die Organisation im Quadranten der Weberschen Digitalverwaltung, nah am Ursprung der Matrix. Auf dem Weg zu dieser neuen Organisation müssen zunächst die Abläufe verändert werden bevor auf Ebene der Aufbauorganisation Anpassungen erfolgen könnten. Insgesamt sollte dafür das Thema Digitalisierung zu einer zentralen Führungsaufgabe gemacht und durch eine für den Landkreis zugeschnittene Digitalisierungsstrategie mit konkreten Maßnahmen, welche Prozesse wie verändert und digitalisiert werden sollen, unterfüttert werden. Dies würde eine strukturierte Vorgehensweise ermöglichen, die notwendig ist, um Mitarbeiter:innen und Bürger:innen von Beginn an mitzunehmen. Die Erarbeitung einer Strategie sollte nicht im operativen Tagesgeschäft erfolgen, sondern sollte unter breiter Einbeziehung von Bürger:innen und des Kreistages stattfinden, damit nutzerzentrierte und allgemein akzeptierte digitale Lösungsansätze entstehen können. Zur Strategieerarbeitung und zur Koordination der hieraus resultierenden Digitalisierungsprojekte haben wir die Einrichtung einer Stabsstelle für Digitalisierung empfohlen. Sie könnte mit der tatkräftigen Unterstützung des Landrates in die gesamte Verwaltung wirken und perspektivisch auch als eigenes Amt für Digitalisierung mit einem interdisziplinär besetzten Team in die Linienorganisation überführt werden. Dieses Amt würde sich nicht nur um strategische Überlegungen, sondern auch die Umsetzung von konkreten Maßnahmen kümmern. Nachgelagert und mit geringerer Priorität kann auch die Einführung von agilen Zusammenarbeitsmethoden in der Landkreisverwaltung in Betracht gezogen werden, um die allgemeine Reaktionsgeschwindigkeit der Verwaltung zu erhöhen. In diesem Fall würde das Amt für Digitalisierung in die Lebenslagen-Teams aufgelöst werden. Vor der Implementierung sollte zunächst eine Pilotierung agiler Arbeitsmethoden in einzelnen Teams erfolgen.

Abbildung 6: Handlungsempfehlungen im Hinblick auf die Reorganisation

Fazit

Unsere zentrale Erkenntnis aus dem Projekt ist, dass eine Landkreisverwaltung bei ihrer digitalen Transformation der Organisation das Rad nicht neu erfinden muss, sondern auf bewährte Digitalisierungslösungen aufbauen kann. Die Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen Kommunen ist dabei sehr sinnvoll, um von Best und Worst Practices aus erster Hand lernen zu können. Auch der Blick in die Wirtschaft kann für Inspirationen sorgen. Die von uns recherchierten Best-Practice-Fälle zeigen, dass es Mut und Ermutigung bedarf, als Verwaltung unkonventionelle, digitale Wege zu gehen. Eine kommunale Verwaltung sollte den eigenen Gestaltungsspielraum nutzen und nicht auf gesetzliche Vorgaben zur Umsetzung von Digitalisierungsvorhaben warten. Stattdessen können bereits konkrete Maßnahmen geplant und implementiert werden, die abhängig von der Rückmeldung der internen und externen Nutzer:innen stetig angepasst werden sollten. Viele Kommunen werden warten und das Zepter nicht selbst in die Hand nehmen. Bei unserem Projektpartner ist das leider ähnlich. Dort wurden unsere vorgeschlagenen Veränderungen zwar angehört, aber werden wohl nur in geringem Maße Umsetzung finden. Für uns hat sich das Projekt trotzdem gelohnt, weil wir wertvolle Einblicke in die reale Verwaltungswelt gewinnen konnten. Wir konnten feststellen, dass sowohl die Verknüpfung von Theorie und Praxis als auch die Zusammenarbeit in interdisziplinären Teams extrem wertvoll für das Studium sind. Wir nehmen unsere Erfahrungen aus diesem Projekt gern in unserem Methoden- und Ideenkoffer mit. Der oder die eine oder andere von uns wird die Digitalisierung des öffentlichen Sektors auch nach dem Studium weiter vorantreiben – sei es als Berater:in oder Mitarbeiter:in.

 

Die Ergebnisse des beschriebenen Praxisprojekts können hier genauer nachgelesen werden:

Caroline Fischer et al. (2019) »Zukunftsszenarien für die digitale Verwaltung«

Clementine Bertheau ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, Prozesse und Systeme an der Universität Potsdam. Zum Zeitpunkt des Projekts studierte sie Wirtschaftsinformatik und digitale Transformation (M.Sc.). Im Rahmen ihres Studiums beschäftigte sie sich in verschiedenen Praxisprojekten mit Themen des Digital Governments.


Veröffentlicht: 17.07.2020