Mikroengagement
Mikroengagement
- Autorinnen / Autoren:
- Lutz Henckel
- Zuletzt bearbeitet:
- Juli 2016
- Titel:
- Mikroengagement
- Trendthema Nummer:
- 33
- Herausgeber:
- Kompetenzzentrum Öffentliche IT
- Titel der Gesamtausgabe
- ÖFIT-Trendschau: Öffentliche Informationstechnologie in der digitalisierten Gesellschaft
- Erscheinungsort:
- Berlin
- Autorinnen und Autoren der Gesamtausgabe:
- Mike Weber, Stephan Gauch, Faruch Amini, Tristan Kaiser, Jens Tiemann, Carsten Schmoll, Lutz Henckel, Gabriele Goldacker, Petra Hoepner, Nadja Menz, Maximilian Schmidt, Michael Stemmer, Florian Weigand, Christian Welzel, Jonas Pattberg, Nicole Opiela, Florian Friederici, Jan Gottschick, Jan Dennis Gumz, Fabian Manzke, Rudolf Roth, Dorian Grosch, Maximilian Gahntz, Hannes Wünsche, Simon Sebastian Hunt, Fabian Kirstein, Dunja Nofal, Basanta Thapa, Hüseyin Ugur Sagkal, Dorian Wachsmann, Michael Rothe, Oliver Schmidt, Jens Fromm
- URL:
- https://www.oeffentliche-it.de/-/mikroengagement
- ISBN:
- 978-3-9816025-2-4
- Lizenz:
- Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (CC BY 3.0 DE) http://creativecommons.org/licenses/by/3.0 de/legalcode. Bedingung für die Nutzung des Werkes ist die Angabe der Namen der Autoren und Herausgeber.
Die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement ist ungebrochen. Digitalisierung verändert allerdings auch hier Gewohnheiten – und schafft neue Möglichkeiten. Kurzzeitig, kleinteilig und flexibel zu helfen, wird zu einem wachsenden Bedürfnis, dem bei Allgegenwart von vernetzten Endgeräten immer leichter entsprochen werden kann. Aber überbrücken die IT-getriebenen Möglichkeiten auch den Graben zwischen kurzzeitig und flexiblen Einsatz sowie langfristigen und kontinuierlichen Bedarf? Beispiele machen Hoffnung und zeigen zugleich Grenzen und Risiken auf.
Digitalisierung gegen den Konflikt zwischen Zeit und Motivation
Zahlreiche Tätigkeitsfelder für bürgerschaftliches Engagement erfordern Langfristigkeit und kontinuierliche Einsatzbereitschaft. Eine freiwillige Feuerwehr etwa, die nur zu bestimmten Zeiten einsatzbereit ist, kann ihre Aufgabe nicht erfüllen. Gleichzeitig lässt sich bei insgesamt ungebrochener Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement ein Trend zu kleinteiliger, kurzfristiger und flexibler Mitarbeit erkennen. Die Verbindung aus langfristigem und kontinuierlichem Bedarf sowie kurzfristigem und flexiblem Angebot bedeutet für die vermittelnden Organisationen eine immer größer werdende Herausforderung. IT kann bei dieser Vermittlung helfen. Aber wie weit geht die IT-Unterstützung bei einem Leitbild, bei dem Engagierte immer und überall mittels mobiler Endgeräte einen Beitrag leisten können und so die Motivation einer sowieso stark internetaffinen jungen Generation noch beträchtlich erhöht werden kann?
Unter Mikroengagement versteht man das zeitlich eng begrenzte Engagement von einzelnen oder einer Gruppe von freiwilligen Helfern. Die Hilfe wird entweder online mittels mobiler, digitaler Endgeräte, wie z.B. Smartphones, oder vor Ort geleistet. Dabei werden die kurzen, spontanen Hilfeleistungen zwischen den Nachfragenden und den Helfern üblicherweise von gemeinnützigen Organisationen vermittelt.
Crowdsourcing und Gamification
Die technischen Innovationen einer global vernetzten, digitalisierten Gesellschaft vereinfachen und verstärken die Möglichkeiten eines bürgerlichen Mikroengagements wesentlich (siehe Daten-Philanthrop). Beispiele für eine technische Umsetzung von kleinteiligen Tätigkeiten existieren bereits, weitere befinden sich aber z.T. noch im Experimentierstadium. Ein Beispiel, das ein sehr kleinteiliges Engagement ermöglicht, ist die Verschlagwortung von unbearbeiteten, digitalisierten Fotos aus dem Fundus des Ethnologischen Museums in Berlin. Zur Steigerung der Motivation werden bei der Web-App Tag.Check.Score Methoden des Gamifications eingesetzt, indem jeder Aktive Punkte für seine Mitarbeit sammelt und der Punktestand dann in einer Rangliste veröffentlicht wird.
Die Aufteilung einer Herkulesaufgabe in kleine Arbeitseinheiten unter IT-Vermittlung ist hier der Schlüssel zur Motivation von Engagement. Beim Beispiel Tag.Check.Score ist zeitliche Dimension dabei unkritisch. Engagement zu jeder Tages- und Nachtzeit lässt den Wissensfundus wachsen. Aber funktionieren solche klassischen Crowdsourcing-Ansätze, bei denen große Aufgaben durch die gemeinsame Arbeit vieler Freiwilliger erledigt werden, auch bei zeitkritischen Anwendungen und kontinuierlichem Unterstützungsbedarf? Zwei Beispiele für die Unterstützung Sehbehinderter erscheinen hier aufschlussreich.
Begriffliche Verortung
Wegbeschreibung mit »MySmartEye«
Bereits im Sommer 2013 ging ein Gemeinschaftsprojekt aus einem Provider und einer Sehbeeinträchtigten-Initiative in Singapur an den Start. Die App »MySmartEye« ermöglicht es freiwilligen Helfern, sehbeeinträchtigten Menschen bei der Identifikation alltäglicher, bildlich festgehaltener Situationen behilflich zu sein. Dabei wird auf die barrierearme Nutzbarkeit von Smartphones gesetzt, die als „drittes Auge" fungieren.
Mit der App lässt sich ein Foto der Umgebung aufnehmen und hochladen. Die Helfenden können dann das hochgeladene Foto beschreiben, was wiederum dem Hilfesuchenden vorgelesen wird. An der derzeitigen Funktionalität der App wird kritisiert, dass keine Rückmeldung zwischen den Hilfesuchenden und den Helfenden möglich ist. Zudem werden keine Hinweise für nutzbringende und unnütze Fotobeschreibungen gegeben.
Sehhilfe als Videoanruf
Das Projekt »Be My Eyes« geht einige Schritte weiter. Auch hier setzt man auf barrierearme Hilfsfunktionen von Smartphones, um Menschen mit Sehbehinderung alltägliche Hilfestellungen zu vermitteln. Die Projekt-App, die derzeit nur für iOS zur Verfügung steht, bringt einige Weiterentwicklungen mit sich. »Be My Eyes« verwendet bewegte Bilder (Video) anstatt Fotos. Das stellt einen entscheidenden Vorteil dar, da gleichzeitig der Hilfesuchende mit dem Helfenden im Video-Telefonie-Dialog steht und somit eine bessere Absprache möglich ist. So werden nicht nur die erwünschten Informationen übertragen, sondern es entsteht eine persönliche Interaktion zwischen den Akteuren. Möglicherweise wird dadurch auch die Grundlage für ein längerfristiges und intensiveres Engagement gelegt. Um dem Missbrauch der App vorzubeugen, werden die Helfer einer Bewertung unterzogen, so dass bei Häufung von negativen Rückmeldungen eine Sperrung erfolgen kann. Als Kritik bleibt die Möglichkeit, dass völlig fremde Helfer ungewollt Einblick in die Privatsphäre von Menschen mit Behinderung erlangen. Dieses Risiko besteht aber auch, wenn ein Helfer in die heimische Wohnung kommt, um vor Ort Hilfe zu leisten. Der Rückgriff auf die Hilfe anderer ist unweigerlich mit dem Risiko verbunden, dass diese ihre Stellung ausnutzen, indem sie das Verhalten der Hilfesuchenden unangemessen beeinflussen oder die zusätzlichen Informationen ausnutzen. Bis hin zur Denunziation von ungewollt beobachteten Verhaltensweisen könnte ein solcher Missbrauch gehen.
Die Schlussfolgerungen aus den Beispielen für das bürgerschaftliche Engagement sind vielfältig. Zunächst ist festzuhalten, dass die synchrone Interaktion eine aktive Mitarbeit sehr vieler Engagierter erfordert. Nur dann können sich die Hilfesuchenden auch auf die zeitnahe Unterstützung verlassen. Gelingt dies eröffnen sich neue Möglichkeiten für das bürgerschaftliche Engagement. Die Technik eröffnet kleinteilige, direkte Unterstützungsmöglichkeiten, die niederschwellig genutzt werden können. Dem Kreis der Unterstützer sind dadurch kaum Grenzen gesetzt, wodurch sich etwa Selbsthilfegruppen organisieren können, bei denen die jeweiligen Beeinträchtigungen wechselseitig ausgeglichen werden (siehe Selbstorganisation). Engagement wird zudem für alle Helfenden zu einer dauerhaft bereitgestellten Möglichkeit, was unterstützt durch persönliche Kontakte zu einem Einstieg in ein längerfristiges Engagement werden kann. In technischer Hinsicht deuten sich lohnende Erweiterungen an. Ein Hinweis auf Unterstützungsbedarf in der direkten Umgebung kann die Motivation weiter steigern und den persönlichen Kontakt erleichtern. Eine weitere Optimierungen der vorgestellten Apps wäre die Einbeziehung der computergestützten Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Sehbehinderte können die Beschreibungen ihres Sichtfeldes dann direkt aus der Software erhalten (siehe Wearables). Auch hierzu gibt es bereits Forschungsarbeiten.
Themenkonjunkturen
Folgenabschätzung
Möglichkeiten
- Bedarfsgerechte Hilfestellung
- Kleinteiliges, flexibles Engagement
- Einfache Nachbarschaftshilfe
- Einstieg in bürgerschaftliches Engagement
- Vielfältige Anwendungen
- Schaffung von Selbsthilfekapazitäten
- Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von Behinderten
Wagnisse
- Vielzahl von Unterstützern erforderlich
- Mögliche Erosion von Face-to-face-Unterstützungsleistungen
- Zu tiefer Einblick in die Privatsphäre behinderter Menschen
- Missbrauch zu Zwecken der Denunziation und Überwachung
Handlungsräume
Förderung von Forschung und Plattformen
Entwicklung und Betrieb von technischen Plattformen, die dann allen Interessierten zur Verfügung stehen müssen, sollten in geeigneter Weise staatlich gefördert werden.
Infrastruktur des öffentlichen Raumes
Infrastrukturen, etwa kleinräumige Navigation in der Smart City (siehe Indoor-Navigation), müssen für die Nutzung von bürgerschaftlicher IT zur Verfügung stehen. Mitspracherechte in der Ausgestaltung und die – gegebenenfalls gesetzliche – Öffnung der Nutzung sind dazu erforderlich.
Privatsphäre
Die staatliche Verantwortung für Regeln zum Schutz der Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger bleibt auch bei den neuen digitalen Möglichkeiten erhalten.