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User Experience in der öffentlichen Verwaltung – Brauchen wir ein »Design-System Deutschland«?

User Experience in der öffentlichen Verwaltung – Brauchen wir ein »Design-System Deutschland«?

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Robin Pfaff ist Projektleiter im Minsterium für Energiewende, […] und Digitalisierung Schleswig-Holstein (MELUND) und begleitet dort beim IT-Verbund Schleswig-Holstein (ITV.SH) die Kommunen bei der Digitalisierung. Als ausgebildeter Trainer und Moderator ist Kommunikation in allen Spielarten sein Metier. Er sieht die Digitalisierung nicht als technische, sondern als kulturelle Herausforderung: die Ausrichtung am Nutzen für Bürger:innen aber auch für die Mitarbeiter:innen in den Verwaltungen sind dafür essenziell. Er hat das »Design-System.SH« hauptverantwortlich entwickelt.

Tel. +49 (0) 175 6286216

E-Mail: robin.pfaff@itvsh.de

Lutz Lungershausen ist Creative Director und Innovationsmanager bei New Communication. Dort sorgt er für öffentliches Aufsehen mit wegweisenden Designs und Interfaces. Nebenbei lebt er seine Typographie-Leidenschaft aus, definiert Corporate Designs, leitet Kreativ- und Innovationsworkshops und ist mehrfacher Fachbuchautor. Während Sie diesen Text lesen, waren es übrigens 15 neue. Bei der Entwicklung des »Design-System.SH« war er maßgeblich beteiligt.

Momentan wird digitalisiert, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Der Bund, die Länder und die Kommunen ringen um den richtigen Weg, wie endlich alle Verwaltungsleistungen auch online abzubilden sind - eine Mammutaufgabe.

Was dabei leider entsteht: Ein aus Nutzer:innensicht unübersichtlicher Flickenteppich an Diensten, Portalen, Konten, Anbieter:innen und Verantwortlichkeiten. Daraus folgt ein ein Kuddelmuddel aus Designs, Oberflächen, Navigationsprinzipien & Co. Um es auf den Punkt zu bringen: Aus Sicht der Bürger:innen herrscht in der öffentlichen Verwaltung Kraut und Rüben.

Schleswig-Holstein möchte aufräumen und hat deshalb das »Design-System.SH« entwickelt – einen ersten User-Experience-Standard für Angebote der öffentlichen Verwaltung. Unter einer Open-Source-Lizenz veröffentlicht, ist es offen für alle interessierten Länder und Kommunen und bietet die Grundlage für eine gemeinsame Nutzung und Weiterentwicklung.

Nutzer:innen begeistern – User Experience

Digitalisierung betrifft alle Bevölkerungsgruppen und -schichten – ob sie wollen oder nicht – und das in einem zunehmenden Tempo. Die nächste Phase der Digitalisierung wird die weitere Durchdringung und Vernetzung aller Lebens- und Arbeitsbereiche sein. Das umfasst einfache und komplexe Prozesse gleichermaßen. Verschiedene Alters- und Lebensstilgruppen kommen dabei unterschiedlich gut und schnell mit veränderten Bedingungen oder neuen Produkten und Dienstleistungen zurecht.

Produkte und Dienstleistungen öffentlicher Verwaltung richten sich prinzipiell an alle Bürger:innen. Das heißt, der Anspruch an digitale Dienste und Produkte aus diesem Bereich ist, sowohl in konzeptioneller als auch operativer Hinsicht, noch umfassender. Daher müssen Angebote so konzipiert und gestaltet sein, dass sie von möglichst vielen Anwender:innen leicht und unmissverständlich genutzt werden können. Mit der Realität hat das allerdings oft wenig zu tun.

Usability – auch Gebrauchstauglichkeit oder Benutzerfreundlichkeit – beschreibt dabei das Maß, in dem Produkte, Systeme oder Dienste durch bestimmte Benutzer:innen in einem Anwendungskontext genutzt werden können, um bestimmte Ziele effektiv, effizient und zufriedenstellend zu erreichen.

Während gute Usability kaum wahrgenommen wird, weil alle Ziele leicht und problemlos erreicht werden können, fällt schlechte Usability durch bestehende Hindernisse, schlechtes oder fehlendes Fehlerhandling, und die daraus resultierende Frustration, auf. Die bloße Abwesenheit oder Eliminierung von Frustrationsauslösern führt jedoch nicht automatisch zu einem ansprechenden Produkt, dies ist vielmehr eine Basisfunktionalität. Für eine breite Akzeptanz sowie die Bereitschaft, digitale Dienste und Produkte regelmäßig zu nutzen, benötigen wir Leistungs- und Begeisterungsmerkmale.

Usability wird daher um das Konzept des User-Experience-Designs (UX-Design/UX) erweitert. UX beschreibt das ästhetische und emotionale Erlebnis, das ein:e Nutzer:in bei, mit und durch einen Dienst oder ein Produkt erfährt: Positive Gefühle, Vertrauensbildung, Freude an der Nutzung (Joy of use).

Von einer »Joy of use« sind wir bei den meisten Services aus öffentlicher Hand sehr weit entfernt.

Abbildung 1: Vom »Joy of use« weit entfernt: Viele Online-Services der öffentlichen Verwaltung. Hier: Das Online-Portal des DigitalPakt Schule in Schleswig-Holstein (Eigene Darstellung).

Auf dem Weg zu einem UX-Standard - das Design-System.SH

Schleswig-Holstein hat sich auf den Weg gemacht, dies zu ändern. Die zentrale Frage, die wir uns stellen: »Wie können wir einheitliche Standards für User Experience und Nutzer:innenzentrierung über Plattformen, Dienste und Komponenten hinweg erreichen?«

Das Ergebnis versucht genau das: Die Etablierung eines UX-Standards - sowohl auf Prozess- als auch auf Produktebene. Das Design-System ist aus der Erfahrung in zahlreichen unterschiedlich komplexen und umfangreichen Projekten entstanden. Wir haben bestehende Design-Systeme analysiert, zum Beispiel das Design-System von GovUK und das aus Dänemark. Daneben haben wir auch allgemeine Modelle der Entstehung von digitalen Produkten, Innovationsprozessen und Design-Thinking-Ansätzen mitgedacht. Das Kondensat haben wir in das »Design-System.SH« gegossen.

Abbildung 2: Das Design-System.SH – praxisorientierte Arbeitshilfe für alle, die am Entstehungsprozess eines digitalen Produktes beteiligt sind (Eigene Darstellung).

Das »Design-System Schleswig-Holstein« ist ein prozess- und nutzerzentriertes System und richtet sich an drei Zielgruppen: Autraggeber:innen bzw. Projektmanager:innen, Designer:innen und Entwickler:innen. Es bietet Anwender:innen ein Phasenmodell sowie Methoden und Handlungsmuster, mit denen sie User-Centered-Design in ihren Bereichen für digitale Dienstleistungen, Produkte und Prozesse initiieren, mitentwickeln, begleiten und beurteilen können.

Abbildung 3: Der Design-Prozess: Methodische Ansätze für den gesamten Prozess der Produktentwicklung (Eigene Darstellung).

Für die visuelle Designphase umfasst das Design-System darüber hinaus gestaltungsnahe, jedoch allgemeingültige Hinweise zu Typografie, Farben, Abständen, Piktogrammen sowie zu konkreten Elementen von User-Interfaces wie Buttons, Navigation, Fortschrittsanzeigen und Benachrichtigungen.

Eine länderübergreifende Pattern Library

Gemeinsam mit der Senatskanzlei Hamburg arbeiten wir momentan an einer länderübergreifenden, offenen Pattern Library: In der Pattern Library werden Komponenten und Strukturen beschrieben, die über verschiedene Anwendungen hinweg immer wieder auftauchen. Es muss nicht jedes Mal neu definiert werden, wie ein Login-Bereich aussieht. In der Library sind etablierte und robuste Standard-Komponenten hinterlegt, aus denen Plattformen, Dienste und Anwendungen bestehen.

Konzepter:innen und Designer:innen sparen so wichtige Zeit und Kosten, weil sie auf ein bestehendes Set an Komponenten zurückgreifen können. Durch die Pattern Library haben alle, die an der Entwicklung eines Produktes beteiligt sind, ein gemeinsames Verständnis und geteiltes Vokabular. Insbesondere in der manchmal schwierigen Beziehung zwischen Auftraggeber:innen, Designer:innen und Entwickler:innen können Missverständnisse vermieden werden und die Kommunikation kann effizienter erfolgen. Insgesamt macht eine Pattern-Library die Arbeit an komplexen digitalen Produkten viel beherrschbarer und damit auch günstiger. Für Nutzer:innen werden unterschiedliche Anwendungen damit konsistent, verständlich sowie vorhersagbar und Designbrüche können reduziert werden.

Anwendung des »Design-System.SH« auf das Bürgerportal SH

Erster Anwendungsfall ist das Bürgerportal für die Kommunen in Schleswig-Holstein. Damit die digitale Kommune der Zukunft ihre Prozesse schneller, effizienter und kundenorientierter gestalten kann, entwickeln wir das landeseinheitliche Bürgerportal Schleswig-Holstein. Als zentrale Informations- und Serviceplattform bildet es die technische Grundlage, um kommunale Verwaltungsdienstleistungen online anzubieten – unabhängig von Ort und Öffnungszeiten und angepasst an die Identität der jeweiligen Kommune.

Das Ziel des Redesign-Prozesses ist die Entwicklung eines intuitiv nutzbaren, barrierearmen und modern wirkenden Produktes. Dabei werden alle im Design-System beschriebenen Prozessschritte durchlaufen:

Nach einem Auftakt mit allen Projektbeteiligten beginnt die Analysephase mit der Evaluierung bisheriger Leistungsdaten, Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken in einem User-Centered-Design-Ansatz. Nutzer:innen, deren Bedürfnisse, Fähigkeiten, Kenntnisse und Berechtigungen, stehen in dieser Phase im Zentrum. Dazu kommen verschiedene Methoden zur Anwendung: Tiefeninterviews, Rapid User Tests, die Persona-Methode, ein User-Centered-Design-Canvas, die Jobs-to-be-done-Methode. Alle Methoden sind im »Design-System.SH« beschrieben.

Die Erkenntnisse aus der Analysephase fließen in die Definition konkreter Produktziele und Nutzer:innenanforderungen ein. Das sind einerseits spezifische Inhalte und andererseits Ideen und Ansätze für bestimmte Funktionen. Die Auswahl und Priorisierung aller Inhalte und Funktionen wird aus der Nutzer:innenperspektive getroffen – nicht aus Sicht der internen Organisationsstruktur. Die Ergebnisse der Analysephase bilden die Grundlage für die Entwicklung einer Informationsarchitektur, die Inhalte und Funktionen strukturiert und in Relation setzt (z.B. via Affinity-Mapping oder Card-Sorting). Anschließend werden für bestimmte Schlüsselfunktionen User-Stories definiert: Prozesse und Abläufe werden im Detail mit allen Abzweigungen, Alternativen und möglichen Fehlern durchgespielt und iterativ optimiert.

Die definierten Inhalte und Funktionen und deren Verknüpfung in der Informationsarchitektur sind die Voraussetzungen für die anschließende Designphase. Sie werden zunächst in einem digitalen Wireframe visuell grob in Beziehung gesetzt; gestalterische Raumbedarfe skizziert, inhaltliche Details abgestimmt und Abläufe gemäß den Vorüberlegungen aus den User-Journeys entwickelt. Dabei wird auf die oben genannte Pattern Library zurückgegriffen.

Erst im letzten Schritt geht es in die konkrete visuelle Ausgestaltung. Inhalte und Funktionen werden in Form eines Prototyps interaktiv umgesetzt, um das Look-and-Feel zu beurteilen und einen validen Eindruck von der User Experience zu erhalten. Die Gestaltung des Bürgerportals als White Label-Lösung und die Rolle der kommunalen Identität spielen an dieser Stelle eine große Rolle. Auf Grundlage dieses Klick-Dummies erfolgt die Diskussion und Abstimmung mit den künftigen Nutzer:innen noch bevor es an die technische Umsetzung geht. Dadurch lassen sich Fehler früh erkennen und Kosten reduzieren.

Abbildung 4: Wireframes des neuen Bürgerportals: In der Designphase werden die Ergebnisse der Analyse und Definition in konkrete Gestaltung gegossen (Eigene Darstellung).

Die technische Umsetzung der gestalterischen Entwürfe erfolgt schließlich mit unseren technischen Dienstleister:innen. Sie wird in Sprintplanungen getaktet und sinnvoll mit den anderen technischen Weiterentwicklungsschritten abgestimmt.

Brauchen wir ein »Design-System Deutschland«?

Das Design-System ist als lebendes System konzipiert. Auf der Prozessebene werden weitere nützliche Methoden ergänzt, die die Nutzer:innenzentrierung in allen Entstehungsphasen gewährleisten. Auf Produktebene fließen einzelne Komponenten und Patterns in die Pattern Library zurück und erweitern damit den Fundus, aus dem neue Produkte entwickelt werden können.

Uns ist klar: Soll die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung gelingen, müssen Lösungsansätze länderübergreifend gedacht und konzipiert werden. Ein Schleswig-Holsteinischer Sonderweg bringt uns dabei nicht weiter. Trotzdem möchten wir anfangen.

Unsere Lösung: Wir bauen das Design-System so auf, dass eine Nachnutzung und Weiterentwicklung länderübergreifend einfach und problemlos möglich sind. Wir möchten maximal kooperativ sein. Das Design-System ist vollständig unter der EUPL, der Open-Source-Lizenz für die Europäische Union, Texte und Grafiken unter der CC-Lizenz, veröffentlicht. Interessierte Länder und Kommunen können sich problemlos anschließen und partizipieren. Es kann damit die Grundlage für eine gemeinsame Nutzung und Weiterentwicklung bieten. Gerade die gemeinsame Pattern Library bietet hier eine große Chance, gemeinsame Standards zu schaffen.

Vielleicht bildet sie ja den Kern für ein »Design-System Deutschland«?

Nutzer:innen und Bürger:innen, aber auch Verwaltungsmitarbeiter:innen und Unternehmen, die sich einfach und intuitiv in allen öffentlichen Angeboten zurechtfinden? Vielleicht sogar ein »Joy of use« oder das Erleben von Vertrauen in die öffentliche Verwaltung?

Zukunftsmusik? Ja, aber eine vielversprechende!

Weiterführendes von ÖFIT:

»Für mehr Barrierefreiheit in der digitalen Verwaltung – Organisationale Hürden und mögliche Maßnahmen«
Für mehr Barrierefreiheit in der digitalen Verwaltung – Organisationale Hürden und mögliche Maßnahmen

Diese Kurzstudie trägt aus Literatur und Expert:inneninterviews organisationale Hürden und mögliche Maßnahmen für die Barrierefreiheit digitaler Verwaltungsangebote zusammen.

Basanta Thapa (2021)

Berlin: Fraunhofer FOKUS: Kompetenzzentrum Öffentliche IT

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»Digitalisierungsprojekte in der Praxis«
Digitalisierungsprojekte in der Praxis

Digitalisierung erscheint oft als eine externe Kraft, die sich über unsere Gesellschaft legt: Kaum ein Lebensbereich bleibt unangetastet. Das ÖFIT-Paper ist eine kleine Hinterbühnenführung durch die Realität von Digitalisierungsprojekten in und zwischen Organisationen. Von Formalitäten bis zur User Experience.

Dr. Stefanie Büchner, Stefanie Hecht, Holger Kurrek (2018)

Berlin: Fraunhofer FOKUS: Kompetenzzentrum Öffentliche IT

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Veröffentlicht: 16.12.2021