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Zu den Quellen! - Impulse für eine theologisch qualifizierte Digitalisierung der evangelischen Kirchen in Deutschland

Zu den Quellen! - Impulse für eine theologisch qualifizierte Digitalisierung der evangelischen Kirchen in Deutschland

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Johannes Brakensiek ist Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland und lebt und arbeitet mit seiner Familie in Duisburg-Walsum. Er ist Freund von Freiheit, Transparenz, Nachhaltigkeit und Allgemeinnützigkeit, im LUKi e.V. aktiv und Mitinitiator des Projekts »LibreChurch - Freie Software für eine freie Kirche«.

Ein kritischer Rückblick über den Verlauf der Digitalisierung in den evangelischen Landeskirchen in Deutschland

Den evangelischen Kirchen in Deutschland fiel ein eigener Zugang zur Digitalisierung über einen langen Zeitraum schwer. Bis heute werden die »digitalen Medien« noch oft als eine Variante der Öffentlichkeitsarbeit nach dem Gestus klassischer Einwegkommunikation verstanden, mit dem die Kirche als Senderin die Gläubigen als Empfänger:innen erreicht, wie etwa Gerald Kretzschmar in seinem Beitrag »Digitalisierung und Kirchenbild« darlegt.

Nachwuchstheolog:innen, die in der Anfangszeit des Web 2.0 mit Blogs und Twitter ihre digitale Kommunikation gestalteten, mussten sich wegen ihres offenen und öffentlichen digitalen Dialoges immer wieder Rüffel von Vorgesetzten einfangen. Die Diskussionen in den sozialen Medien werden heute dagegen selbstverständlich auch von höheren kirchlichen Stellen unter dem Hashtag #digitaleKirche begleitet. Diese Selbstverständlichkeit setzt sich in Bezug auf Social Media als ein Medium der kirchlichen Arbeit zunehmend durch. Dabei werden jedoch oft, zuletzt verstärkt bei digitalen Video-Gottesdiensten während des sogenannten Corona-»Lockdowns«, gängige Plattformen amerikanischer IT-Konzerne genutzt. In Bezug auf die Digitalisierung der eigenen IT-Strukturen in (öffentlichen) Ämtern, Verwaltung und Körperschaften lassen sich derzeit keine einheitliche Linie oder strategische Grundsatzentscheidungen für die Art und Weise der Digitalisierung(en) erkennen.

Spätestens mit der »Digitalisierungssynode« der Evangelischen Kirche in Deutschland im Jahr 2014 (eine Synode ist in den protestantischen Kirchen das »gesetzgebende Parlament«) hätte sich auch in den Gliedkirchen (den sogenannten Landeskirchen, die analog zu den Bundesländern föderal und unabhängig entscheiden) im Bereich der Digitalisierung einiges entwickeln können. Bei der Synode wurde das Thema »Digitalisierung« auf Betreiben der Jugenddelegierten der EKD auf die Tagesordnung gesetzt und eine entsprechende Kundgebung beschlossen.

Aufgefallen sind unter den 20 Landeskirchen jedoch vor allem drei größere Landeskirchen:

  1. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers, die mit intern-e ein nicht quelloffenes Portal zur internen Kommunikation entwickeln ließ.
  2. Die Evangelisch-lutherische Kirche in Bayern, die in ihrem Digitalisierungsprozess interne Lösungen wie einen Nextcloud-basierten Dateispeicher, aber auch öffentliche Informationssysteme wie kirchenjahr-evangelisch.de oder taufspruch.de realisiert hat.
  3. Die Evangelische Kirche im Rheinland, die als einzige evangelische Landeskirche nicht nur 2015 eine Open-Source IT-Strategie beschlossen, sondern auch eine entsprechende Portal-Lösung mit quelloffenen Komponenten auf den Weg gebracht hat.

Auf nationaler Ebene der EKD war in Sachen Digitalisierung wenig Bewegung zu beobachten, bis die Synode im Jahr 2017 kurzfristig das Projekt »Kirche im digitalen Wandel« startete. Das Projekt soll nicht nur die Digitalisierungsunternehmungen der Gliedkirchen begleiten und vernetzen, sondern mit einem kleinen Digitalisierungsfonds auch kirchliche Digitalisierungsprojekte unterstützt. In der Corona-Krise gab es bei diesem mit drei Personenstellen besetzten Projekt manche Gelegenheit, den zumindest kurzfristigen Digitalisierungswillen in dieser Zeit auch mit öffentlich angekündigten Bildungsmaßnahmen, z.B. mit Webinaren, zu unterstützen.

Für den Digitalisierungsfonds wurden (für kirchliche Verhältnisse) überraschend klare und konkrete Ziele formuliert. Theologische Begründungen der Ziele lassen die Formulierungen jedoch vermissen.

Impulse für eine theologisch qualifizierte Digitalisierung der Kirchen basierend auf quelloffener Software und offenen Bildungsressourcen

Die eher zähe Adaption digitaler Entwicklungen in den protestantischen Kirchen ist meines Erachtens nicht nur mit den typischen Entwicklungsprozessen von Großorganisationen zu erklären. Vielmehr wurden überzeugende und konsensfähige theologische Begründungsstrukturen für eine qualifizierte Digitalisierung bisher erst in Ansätzen dargestellt.

Bei den folgenden Argumenten geht es mir darum, dass insbesondere quelloffene Software (auch Freie (Libre) und Open-Source-Software genannt), Möglichkeiten einer theologisch qualifizierten Digitalisierung bietet, die bisher nicht ausgeschöpft sind.

Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts

Als Religionsgemeinschaft(en) sind die großen Kirchen öffentlich-rechtliche Körperschaften, so dass die Argumente für quelloffene/Freie Software entsprechend der Kampagne Public Money, Public Code mustergültig adaptiert werden können. Dazu verweise ich gerne auf die Argumentation des Vereins »Linux User im Bereich der Kirchen«, die besonders das kirchliche Engagement für das gesellschaftliche Allgemeinwohl hervorhebt.

Die Kirchen sind darüber hinaus aber auch Tendenz- und Interessensgemeinschaften, die in ihrem Handeln nach theologischen Begründungsstrukturen fragen (die in der Gesetzgebung bei großen Rechtstexten z.B. als Vorworte vorangestellt werden). Drei verheißungsvolle Begründungsstrukturen, die für den Nachvollzug gesellschaftlicher Digitalisierungstendenzen und dabei insbesondere für die Nutzung von und die Investition in quelloffene Software sprechen, möchte ich hier darstellen:

Quelloffene Software als Chance für ein neues gerechtes und nachhaltiges Wirtschaften

In den 1970er Jahren hatte die Revolte der 68er und die Kontinente umfassende, sogenannte ökumenische Bewegung im Ökumenischen Rat der Kirchen Impulse der lateinamerikanischen Befreiungstheologie in Europa eingebracht, die nach Maßstäben für gerechtes und Frieden förderndes Handeln und die Bewahrung der Schöpfung in der Einen Welt fragte.

In deren Folge ergab sich in praktisch allen evangelischen Landeskirchen eine neue Orientierung hin zu gerechtem Wirtschaften (Fair Trade) und eine verstärkte Ausrichtung der weltweit agierenden Missionsgesellschaften als Partner:innen einer ganzheitlichen Entwicklungspolitik.

An diese theologische Linie hat 2018 »Brot für die Welt«, die große Entwicklungsorganisation der evangelischen Kirchen, angeknüpft, indem sie die Konferenz #bitsUndBaeume mitorganisierte, die die Nachhaltigkeitspotenziale der IT, auch von quelloffener Software, thematisierte und dabei ökologische und informationstechnische Positionen miteinander ins Gespräch brachte. Die Ergebnisse sind in einer offenen Publikation dokumentiert.

Ich freue mich, dass damit in größerem Rahmen diskutiert wird, was der Verein »Linux User im Bereich der Kirchen« seit 2001 in kleinem Rahmen unter ökumenischer Perspektive in die Kirchen einbringt. Mein Eindruck ist, dass die Chancen für die Entwicklung der Einen Welt durch die Förderung von quelloffener Software und die Investition in quelloffene Software durch kirchliche Organisationen damit im Ansatz erkannt sind. Dass noch weitere Potenziale erarbeitet werden könnten, sollen die folgenden Ausführungen zeigen.

Quelloffene Software als Chance reformatorische Bildungsideale neu umzusetzen

Wenn der Annahme gefolgt wird, dass Software in Programmiersprache gegossenes Wissen und im Zeitalter der Wissensgesellschaft zunehmend der »Code der Gesellschaft« ist, dann folgt daraus für die protestantischen Kirchen, dass der Quellcode solcher Software frei und offen zugänglich sein muss.

Dies ergibt sich zum einen aus der Perspektive der Anliegen der Reformation. Die Reformator:innen haben den unmittelbaren Zugang der Gläubigen zu Gott - durch Jesus Christus - ohne andere menschliche Mittler:innen in den Vordergrund gestellt. Dieses sogenannte »Priestertum aller Gläubigen« hatte als Grundvoraussetzung die Mündigkeit der Gläubigen durch persönliche Aneignung wesentlicher Glaubensinhalte. Daraus folgt, dass die Reformation im Wesentlichen eine Bildungsbewegung war, die als Voraussetzung die Offenheit und Zugänglichkeit der biblischen Quellen des Glaubens hatte. Im Zusammenhang mit dem Humanismus des 16. Jahrhunderts bedeutete dies auch die Bereitstellung der griechischen und hebräischen Urtexte, die erstmals ediert und veröffentlicht wurden.

Zu den Errungenschaften der digitalen Datenverarbeitung gehört, dass Wissen in Form von Texten und Quelltexten heute praktisch ohne Kosten verbreitet werden kann. Dass heute der deutsche Text der Lutherbibel immerhin im Internet menschlich lesbar, aber wegen urheberrechtlicher Einschränkungen informationstechnisch nicht frei und unbeschränkt verarbeitet werden kann, ist vor den Hintergründen der Reformation ein Missstand, der auf das bisher nur oberflächlich bearbeitete Verhältnis on Digitalisierung und theologischer Grundlagenarbeit in den Kirchen hinweist. Dies gilt umso mehr für die wissenschaftlich edierten Quellen, allen voran die hebräischen und griechischen Urtexte der Bibel. Sie sind Grundlage theologischer Arbeit und Wissenschaft. Im englischsprachigen Raum sind sie zum Teil einsehbar, im deutschsprachigen Raum werden sie jedoch hinter teuer zu bezahlenden Copyright-Schranken versteckt (siehe hingegen »Exploring Freedom. A Conversation between FLOSS-Culture and Theological Practices of Freedom«). Die informationstechnischen Verarbeitungsmöglichkeiten im Dienst wissenschaftlicher und kirchlicher Arbeit sind dabei stark begrenzt.

Quelloffene Software als Chance zur Förderung weltweiter Bildung und aufgeklärter, demokratischer Strukturen durch Investition in universales Wissen

Die zweite Perspektive ist der Rückbezug der Kirchen auf die Werte der Aufklärung. Kirchen und theologische Wissenschaft sind den Prinzipien der Demokratie und der aufgeklärten Wissenschaft, wovon die erste abhängt, verpflichtet. Zur aufgeklärten Wissenschaft zählt wesentlich die öffentliche Ausübung der Vernunft anhand universalen Wissens. Universal bedeutet »allgemein verfügbar« im Gegensatz zu partikular verfügbarem Wissen, das nur Geheimzirkeln zur Verfügung steht.

In einer Gesellschaft, in der die Digitalisierung wesentlich von Großkonzernen vorangetrieben wird, deren Software proprietär, also nicht quelloffen und damit verschlossenes und versiegeltes Wissen ist, werden sich Kirchen als Player einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft verstehen müssen, die allgemein benötigtes und verwendetes Wissen in Form von Softwarequelltexten frei und öffentlich zugänglich machen. Dies gilt insbesondere für wesentliche gesellschaftliche Grundvollzüge, die in Software gegossen sind.

Dies wird aus kirchlicher Sicht für Software gelten, die die Infrastruktur für sensible und wesentliche Aufgabenbereiche betrifft. Ich denke dabei etwa an Software für interne Kommunikation, Seelsorge sowie Mitglieder- und Finanzverwaltung, aber auch für die Organisation von sozialer Arbeit und Hilfeleistungen. Dies sind zugleich Tätigkeitsbereiche, bei denen die Partnerkirchen in besonderer Weise von dem Zugriff auf öffentliches, allgemein verfügbares Wissen in Form von Softwarequelltexten profitieren können.

Fazit: Quelloffene Software und offene Bildungsressourcen sind theologisch notwendige Grundpfeiler einer kirchlichen Digitalisierung

Die Kirchen betreiben sowohl öffentliche Ämter und Verwaltungen als auch öffentliche Bildungseinrichtungen und Forschung.

Die strategische Investition in quelloffene Software und die Förderung allgemein verfügbaren Wissens, sowohl in Form quelloffener Software als auch in Form offener Bildungsressourcen, sind daher notwendige Grundpfeiler ihrer Digitalisierung. Dies entspricht ihrem religiös motivierten Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden in der Einen Welt und dient der Ermächtigung und der Mündigkeit der Gläubigen unter den Bedingungen der Wissensgesellschaft.

Dazu sollten die Kirchen auch darauf hinwirken, die Quellen theologischer Wissenschaft als offene Bildungsressourcen unter Creative Commons-Lizenz zur Verfügung zu stellen, wie bereits 2019 vom Evangelischen Kirchentag gefordert.

Für eine qualifizierte Digitalisierung der protestantischen Kirchen, die im Einklang mit ihren theologischen Grundlagen begründet und entwickelt wird, bieten sich also viele Möglichkeiten. Wir stehen im Diskurs darüber aber erst am Anfang.


Veröffentlicht: 18.12.2020