Zukunftsressource Archiv – vom historischen Gedächtnis zur intelligenten Wissensplattform für die Verwaltung
Zukunftsressource Archiv – vom historischen Gedächtnis zur intelligenten Wissensplattform für die Verwaltung
Zukunftsressource Archiv – vom historischen Gedächtnis zur intelligenten Wissensplattform für die Verwaltung
Gastbeitrag von Benjamin Schürmann
Benjamin Schürmann ist promovierter Politikwissenschaftler und Co-Autor des Berichts »Zukunftsressource Archiv«. Er arbeitet als Senior Associate im Bereich Research bei POSSIBLE. In dieser Funktion beschäftigt er sich mit wissenschaftlich fundierten und praxisorientierten Reports, die die Chancen digitaler Innovation für Verwaltung, Politik und Gesellschaft ausleuchten. Aktuell treibt ihn die Frage um, wie digitale Beteiligungsmöglichkeiten demokratische Prozesse verbessern können.
Warum digitale Archive als Zukunftsressource so wichtig sind
Öffentliche Archive gelten als das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft. Sie verwahren und erhalten Unterlagen langfristig und machen behördliche Prozesse für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich. Auf diese Weise dienen sie als wichtige Quelle für die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen in der Verwaltung, und fungieren als Ressource für die politische Bildungsarbeit und die Forschung. Allein im deutschen Bundesarchiv lagern etwa 540 Kilometer Schriftgut, 15 Millionen Bilder und mehr als 60 Petabyte Daten – eine Datenmenge, die bereits heute das vom Informationstechnikzentrum Bund (ITZBund) verantwortete Datenvolumen übersteigt.
Der vorliegende Beitrag zeigt auf, wie Archive auf dem Weg in eine digitale Zukunft über ihre Rolle als öffentliche Gedächtnisinstitution hinauswachsen können. Im Rahmen des Berichts »Zukunftsressource Archiv – vom historischen Gedächtnis zur intelligent-vernetzten Wissensplattform« zeigen wir als Possible gemeinsam mit der Bundesdruckerei auf, wie das Archiv der Zukunft aussehen könnte. Die Grundlage bildet eine umfangreiche Literaturrecherche und Impulse aus Expert:innen-Interviews mit Mitarbeitenden aus Behörden, Archiven und Ausbildungsstätten. Wir argumentieren unter Anderem, dass sich Archive zu einer echten Zukunftsressource für die Verwaltung selbst entwickeln können, wenn sie sich (digital) grundlegend modernisieren.
Der Lebenszyklus einer Akte in der öffentlichen Verwaltung
Die Rahmenbedingungen und Aufgaben von Archiven werden durch nationale und internationale Gesetze bestimmt. In Deutschland definieren das Bundesarchivgesetz und die unterschiedlichen Landesarchivgesetze, auf welche Art und Weise Archivgut langfristig zu sichern, nutzbar zu machen und wissenschaftlich zu verwerten ist. Das Bundesarchiv verwahrt beispielsweise das Archivgut aller Bundesbehörden und ihrer Vorgängerinstitutionen, wenn das Archiv in Absprache mit der anbietenden Verwaltung einen bleibenden Wert der Unterlagen festgestellt hat.[1]
Auf dem Weg hin zum Archivgut durchlaufen Akten, Schriftgut und weitere Informationen aus der Verwaltung im Wesentlichen drei Stationen:
- Registratur: Die Registratur ist für die ordnungsgemäße Erfassung, Bearbeitung, Speicherung und Archivierung von Akten und Dokumenten verantwortlich, die für die behördlichen Prozesse und Entscheidungen relevant sind.
- Altregistratur bzw. Zwischenarchiv: Die Altregistratur als spezieller Bereich innerhalb der Registratur dient dazu, ältere Unterlagen geordnet und zugänglich aufzubewahren, während sie nicht mehr aktiv für laufende behördliche Prozesse benötigt werden. Eine Alternative zur Altregistratur bildet das Zwischenarchiv, in dem Unterlagen zwar von einem Archiv bereits verwaltet werden, jedoch noch der Verfügung der abgebenden Stelle unterstehen.
- (End-)Archiv: Nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist gelangt die Unterlage bei positiver Bewertung der »Archivwürdigkeit« in das zuständige Endarchiv (Bundesarchiv, Landesarchiv, Stadt- bzw. Kommunalarchiv, etc.).
An der Schnittstelle zwischen Archiv und Verwaltung – der vorarchivarische Prozess
Der beschriebene Lebenszyklus einer Akte hin zum Archivgut spielt sich dabei im sogenannten vorarchivarischen Raum ab. Dieser ist den eigentlichen Arbeitsschritten im Archiv vorgelagert und erfordert die enge Zusammenarbeit zwischen Behörden und Archiven. Ziel ist es, potenziell archivwürdiges Material durch die anbietenden Behörden systematisch in Altregistraturen bzw. Zwischenarchiven zu verwalten und auf eine etwaige Übernahme durch das Archiv vorzubereiten. Drei Aufgaben kennzeichnen diesen vorarchivarischen Prozess:
»Es entstehen ständig neue Dateiformate, die die Verwaltung verwendet. Es ist für die Archive die größte Herausforderung, überhaupt mitzubekommen, was die Verwaltung macht.«
- Behördenberatung durch Archive: Archive können öffentliche Stellen bei der Verwaltung und Sicherung ihrer Unterlagen beraten, damit die Aktenführung sowie die Schriftgut- und Informationsverwaltung bestmöglich auf die Anforderungen der Archive abgestimmt ist. So bietet beispielsweise das Bundesarchiv individuelle Beratungen, regelmäßige Schulungen und Handreichungen zu Schriftgutverwaltung, Aktenplanung und der Langzeitspeicherung von elektronischen Unterlagen an.
- Aufbewahrung von Unterlagen: Behörden verfügen normalerweise über eine interne Registratur für die Organisation und Aufbewahrung von aktuellem Schriftgut sowie eine Altregistratur, in der Unterlagen, deren Bearbeitung abgeschlossen ist, verwahrt werden. Durch die systematische Organisation wird sichergestellt, dass spätestens nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist über die Archivwürdigkeit der Unterlagen entschieden werden kann. Auf Bundesebene besteht für Behörden zudem die Möglichkeit, archivwürdige digitale Unterlagen (z.B. E-Akten) bereits vor Ende der Aufbewahrungsfrist in das digitale Zwischenarchiv des Bundes zu transferieren, das den Behörden als Dienstleister das Führen der Altregistratur abnimmt.
- Anbietung durch Behörden: Gemäß des Bundes- und der Landesarchivgesetze bieten Behörden archivwürdige (digitale und analoge) Unterlagen zur Übernahme in ein Archiv an. Diese Aussonderung erfolgt, wenn die Unterlagen nicht mehr für laufende Aktivitäten gebraucht werden und spätestens nach 30 Jahren.
Das intelligent-vernetzte Archiv der Zukunft als wertvoller Partner für Behörden?
Durch die rapide voranschreitende Digitalisierung und die Parallelität von analogen und digitalen Prozessen entwickelt sich eine zunehmende Komplexität im Archivwesen. Archive, deren Methodik sich in den vergangenen Jahrhunderten auf Basis von analogen Akten (weiter-)entwickelt hat, stehen vor der großen grundsätzlichen methodischen Frage, wie trotz sich schnell wandelnder Trägerstoffe eine aussagekräftige Überlieferung gebildet werden kann.[2]
»Wie können im digitalen Zeitalter Unterlagen so in das Archiv übernommen werden, dass sie langfristig sinnvoll nachnutzbar sind? Und wie können Behörden entsprechend beraten werden und sich darauf vorbereiten, dass bei der Übernahme archivwürdiges Material in geeigneter Form vorliegt?«
»Insbesondere die großen Fachverfahren sind eigentlich für alle Archive eine Herausforderung, wie man damit umgehen kann.«
In diesem Zusammenhang zeigen unsere Interviews mit Vertreter:innen der Verwaltung deutlich, dass sich Behörden primär als Zulieferer betrachten und Archive als Quelle nur selten genutzt werden. Mit Blick auf die Behördenarbeit leiten wir gleichzeitig einen dringenden Handlungsbedarf und hohe Potenziale für die Neugestaltung der Archive der Zukunft ab. Wir kreieren drei Zukunftsbilder, die das Idealbild eines modernen öffentlichen Archivs beschreiben. Wir unterscheiden zwischen (i) dem intelligent-vernetzten Archiv, (ii) dem nutzerzentrierten Archiv, und (iii) dem resilienten Archiv.
Was wäre, wenn sich Behörden und Archive als ein gemeinsamer Datenschatz verbinden?
Einen besonderen Mehrwert für die Verwaltungsarbeit liefert das intelligent-vernetzte Archiv. Dieses kann auf qualitativ hochwertig aufbereitete Registraturdaten aus den Behörden zurückgreifen, weil sie reibungslos via Schnittstellen zwischen Behörden und Archiven übergeben werden. Im Zukunftsbild des intelligent-vernetzten Archivs sind alle relevanten Archivmaterialen erschlossen und digital zugänglich. Einheitliche Standards sorgen - z.B. in der Erstellung von Metadaten - dafür, dass Inhalte innerhalb und zwischen Archiven auf intelligente Weise miteinander verknüpft sind. Behörden haben jederzeit die Möglichkeit, digital auf einen großen, gut organisierten Fundus von Archivmaterialien aus unterschiedlichen Quellen zuzugreifen.
Wie gelangen wir zu einem intelligent-vernetzten Archiv?
Durch gezielte Maßnahmen zur intelligenten Vernetzung können Archive den Zugang zu Informationen verbessern, ihre Ressourcen optimieren und Synergien innerhalb des Archivwesens schaffen. Maßnahmen von Politik und Verwaltung spielen eine zentrale Rolle, um die Digitalisierung in Archiven voranzutreiben und ein intelligent-vernetztes Archiv zu ermöglichen. Unsere Top-3-Handlungsempfehlungen für Politik und Verwaltung teilen sich in kurzfristig gangbare Schritte, die auf die Umsetzung des Zukunftsbildes einzahlen.
Handlungsempfehlung 1: Fortentwicklung von Nachnutzbarkeitsmechanismen zur Skalierung von digitalen Archivlösungen
Analog zur Föderalen IT-Kooperation (FITKO), die Bund und Länder bei der Digitalisierung der Verwaltung und Entwicklung föderaler IT-Strukturen und Standards unterstützt, könnte für öffentliche Archive eine Organisation aufgesetzt werden, die die Digitalisierung der Archive auf Bundes- und Länderebene begleitet und die Nachnutzbarkeit von Lösungen durch einen FIT-Store sicherstellt. Stärkere Verbünde auf kommunaler Ebene, wie beispielsweise das elektronische Kommunalarchiv Sachsen (eIKA), könnten regional bei der elektronischen Archivierung von wachsenden Datenmengen unterstützen.
Handlungsempfehlung 2: Verbesserung der Datenqualität und frühzeitige Einrichtung von Schnittstellen
Öffentliche Verwaltungen sollten entscheidende Schritte hin zu einer konsequenten und umfassenden Digitalisierung des Verwaltungshandelns vorantreiben, sodass die Qualität der Daten, die Archive erhalten, verbessert und Dateiformate von digitalen Unterlagen vereinheitlicht werden. Zudem sollten Application Programming Interfaces (APIs; zu deutsch: Programmierschnittstellen) zwischen der Verwaltung und Archiven beim Roll-out der E-Akte eingerichtet werden, sodass ein nahtloser Transfer der Unterlagen zwischen Verwaltung und Archiven ermöglicht wird.
Handlungsempfehlung 3: Aufsetzen eines »Digitalpakts Archiv« zur Verprobung neuer Technologien
Vor dem Hintergrund mangelnder Ressourcen in Archiven selbst, könnten Bund und Länder die nachhaltige Digitalisierung in Archiven analog zum Digitalpakt Schule im Rahmen eines Förderprogramms beschleunigen. Analog zum »Digitalpakt Schule« könnte der »Digitalpakt Archiv« so aufgesetzt werden, dass Archive Digitalisierungskonzepte nach Landesprogrammrichtlinien vorlegen müssen, um eine Förderung zu erhalten. Die Mittel aus diesem Programm könnten Archive nach individuellem Bedarf nutzen, um neue Technologien für den Archivkontext weiterzuentwickeln. Beispielsweise kann Natural Language Processing (NLP) helfen, um die Indexierung von Unterlagen weitestgehend zu automatisieren.
Quo vadis Archive?
So weit sind die Archive heute noch lange nicht, auch weil die gesellschafts-politische Anerkennung bisher fehlt. Ein Großteil von Ihnen versucht heute, die digitale Transformation nicht zu gestalten, sondern irgendwie zu bewältigen. Doch Archive können so viel mehr als analoge Dokumente eins-zu-eins ins Digitale zu übersetzen. Wir haben gezeigt, dass Archive eine Zukunftsressource für die gesamte Gesellschaft bilden können, wenn Politik, Verwaltung und Archive mutig genug sind die Potenziale innovativer Technologien für die Archivarbeit zu nutzen. Warum eigentlich nicht?
[1] Dazu gehören Unterlagen der folgenden Stellen gemäß § 3, Abs. 2 Bundesarchivgesetz: Unterlagen der öffentlichen Stellen des Bundes, Unterlagen der Stellen des Deutschen Reiches und des Deutschen Bundes, Unterlagen der Stellen der Besatzungszonen, Unterlagen der Stellen der Deutschen Demokratischen Republik, Unterlagen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der mit dieser Partei verbundenen Organisationen und juristischen Personen sowie der Massenorganisationen der Deutschen Demokratischen Republik und Unterlagen der anderen Parteien und der mit diesen Parteien verbundenen Organisationen und juristischen Personen der Deutschen Demokratischen Republik. ↩
[2] Überlieferungsbildung: Archive bewerten die Archivwürdigkeit von Unterlagen anhand fachlicher Kriterien im Benehmen der anbietenden Stellen. Durch die Bewertung soll eine aussagekräftige Überlieferung gebildet werden, die das Verwaltungshandeln nachvollziehbar dokumentiert. Dabei können die einzelnen Unterlagen unterschiedlich gehaltvoll sein. Beispielsweise sind Informationen aus einem Fachverfahren einer Behörde grundsätzlich auch in einer Akte abgelegt. Aus Überlieferungsgründen kann es jedoch sinnvoll sein, nicht die Akte, sondern das Fachverfahren zu archivieren, weil dieses besser von Nutzenden verwertet werden kann. ↩
Weiterführendes von ÖFIT:
Datenbezogene Standards
Jegliche sinnvolle Nutzung von Daten erfordert datenbezogene Standards: In welcher Form werden Daten gespeichert und übermittelt, welche Metadaten sind notwendig, sodass die Daten von beliebigen zukünftigen Nutzenden »verstanden« und möglichst unkompliziert weiterverarbeitet werden können? Wie kann der gezielte automatisierte Zugriff auf offene Daten durch a priori unbekannte Dritte erfolgen? Wie werden Daten erfolgreich gegen Nichtverfügbarkeit, Manipulation und unzulässige Offenlegung geschützt? Wie wird sichergestellt, dass Datenerhebung, -speicherung und -nutzung ethischen Grundsätzen entsprechen? Die Antwort auf diese Fragen lautet: Durch die Anwendung datenbezogener Standards. In diesem White Paper nähern wir uns derartigen Standards aus der Sicht von Nutzenden und Bedarfsträger:innen, aber auch aus der Sicht derer, die die Weichen für die Verfügbarkeit und Nutzung der Standards stellen müssen.
Public Sharing – Ein Impuls
Sharing wird zunehmend zu einem gesellschaftlichen Trend: Nutzung statt Eigentum. Cloudspeicher statt Festplatte, oder Carsharing statt Privatauto. In welchen Anwendungsbereichen kann der öffentliche Sektor diese Entwicklung nutzen? Welche Gestaltungsaspekte ergeben sich für die Politik? Antworten auf diese und weitere Fragen finden Sie im Impulspapier: Public Sharing
Digitalisierungsprojekte in der Praxis
Digitalisierung erscheint oft als eine externe Kraft, die sich über unsere Gesellschaft legt: Kaum ein Lebensbereich bleibt unangetastet – von der gesellschaftlichen Meinungsbildung bis zum Modus der Partnerwahl sind wir in einer nie dagewesenen Weise durch digitale Technologien beeinflusst. Neben diesen großen Transformationen und Transformationsversprechen steht aber auch eine andere Wirklichkeit: Die Wirklichkeit realer Digitalisierungsvorhaben. Diese Wirklichkeit ist auf den Bühnen der Digitalisierungspromotoren selten zu sehen. Sie lebt in den Andeutungen, die im Kollegenkreis in den Schlangen der Tagungsbuffets erzählen, in den vertraulichen Gesprächen vor Projektmeetings und im Erfahrungsschatz all jener, die Organisationen und Leitungskräfte befähigen wollen, Digitalisierungsprojekte erfolgreich zu führen. Ein Großteil aller Digitalisierungsinitiativen findet in und zwischen Organisationen statt: Behörden digitalisieren ihre Geschäftsprozesse, experimentieren mit der Erschließung und Öffnung ihrer Datenschätze und entwickeln partizipative und kollaborative Softwareanwendungen.
Veröffentlicht: 27.08.2024