Schwarm-Trading
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Kleinanleger:innen haben es gegenüber größeren Marktteilnehmern am Wertpapiermarkt schwer. Von vielversprechenden Marktsituationen erfahren sie oft nicht rechtzeitig und wenn doch, dann ist ihr Kapital häufig zu gering, um eine solche Situation auch für sich zu nutzen. Dass dies nicht in Stein gemeißelt ist, hat die durch einen Schwarm organisierter Kleinanleger:innen initiierte Ausnahmesituation bei der GameStop-Aktie im Januar 2021 gezeigt, als Hedgefonds mehrere Milliarden verloren. Ein Anzeichen für neue Machtverhältnisse und Möglichkeiten auf dem Kapitalmarkt?
Von spezialisierten Anwendungen zu flexiblen Werkzeugen
Der Handel mit Wertpapieren bietet Menschen und Organisationen die Chance, verfügbares Kapital gewinnbringend einzusetzen. Einmal erworbene Wertpapiere können ihren Wert im Laufe der Zeit deutlich steigern. Zudem beteiligen einige Aktiengesellschaften ihre Aktionär:innen auch am Unternehmensprofit in Form von Dividenden. Gleichzeitig lauern beim Wertpapierhandel auch Risiken. Kurse können gewaltig schwanken und bei einer Unternehmenspleite droht sogar der totale Wertverlust der zugehörigen Wertpapiere. Kurse für Wertpapiere ergeben sich aus Angebot und Nachfrage der Marktteilnehmer.
Um von steigenden oder sinkenden Kursen profitieren zu können, muss daher nicht nur die wirtschaftliche Situation von Unternehmen und Staaten korrekt eingeschätzt werden, sondern auch das derzeitige und zukünftige sowie mitunter nicht rationale Verhalten anderer Marktteilnehmer. Die Teilnahme am Wertpapiermarkt steht grundsätzlich allen Menschen offen, die individuellen Voraussetzungen können sich jedoch stark unterscheiden.
Begriffliche Verortung
Die Nachteile der Kleinen
Beim Wertpapierhandel haben die meisten Privatpersonen erhebliche Nachteile gegenüber Organisationen und wohlhabenden Privatpersonen. Dies betrifft zum einen den Einstieg: Der Zugang zum Markt ist oft umständlich, die Lernkurve ist flach und hohe Gebühren fressen potenzielle Profite bei Kauf- und Verkaufsaufträgen mit kleinem Volumen gleich wieder auf. Außerdem existieren erhebliche Informationsasymmetrien. Kleinanleger:innen haben in der Regel wenig Zeit zur Verfügung, um sich laufend zu informieren und sind dabei auf Massenmedien und Analyst:innen angewiesen, weshalb sie von marktrelevanten Neuigkeiten zumeist erst spät erfahren. Die Informationen aus Massenmedien (siehe: Massenmedien) und von Analyst:innen erweisen sich dabei nicht immer gleich zuverlässig; um hier den Durchblick zu behalten, sind Kenntnisse und wiederum Zeitreserven erforderlich.
Im Gegensatz zu Kleinanleger:innen verfügen Großanleger:innen über bessere Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und -bewertung. Ihre großen Kapitalbeträge, zahlreichen Kontakte, technischen Mittel und ihren Status können sie obendrein dazu nutzen, um den Markt in ihrem Interesse zu beeinflussen. Die Einflussnahme kann sowohl informationsgestützt geschehen, z.B. durch geplante Streuung von Information, Spam oder sogar Fake News, als auch handelsgestützt erfolgen, z.B. durch das Auslösen eines Kurstrends bei einem Wertpapier mittels großvolumiger Kauf- oder Verkaufsaufträge.
Jedensfalls war all dies mal so.
»Let the people trade!«
Einige der beschriebenen Ungleichheiten werden im Laufe der Digitalisierung zunehmend neutralisiert. Ein Grund hierfür sind Online-Broker und die noch jungen, aber schnell wachsenden Neo-Broker, die ihre Wurzeln häufig in der Technologie- statt in der Finanzbranche haben. Die Zielkund:innen der Neo-Broker sind in erster Linie junge Menschen, die im Gegensatz zur älteren Kund:innenbasis herkömmlicher Broker zumeist über weniger Kapital verfügen, aber digitalaffiner sind. Typisch für Neo-Broker ist, dass die Gebühren für die Führung von Wertpapierdepots und die Abwicklung von Kauf- und Verkaufsaufträgen niedrig sind oder überhaupt keine erhoben werden. Weiter zeichnen sich Neo-Broker durch Online-Zugänge, häufig per App, aus, die besonders niedrigschwellig, bequem bedienbar und manchmal auch spielerisch (siehe: Gamification) gestaltet sind. Im Vergleich zu herkömmlichen Brokern fällt das Serviceangebot oft schmaler aus, wodurch die Neo-Broker ihre Kosten niedrig halten können. Geld verdienen Neo-Broker wie andere Broker auch durch Rückvergütungen, die sie von den Betreibern von Handelsplätzen für die Weiterleitung der Aufträge ihrer Kund:innen erhalten. Diese Rückvergütung fällt pro ausgeführten Auftrag sehr gering aus, d. h. damit das Geschäftsmodell der Neo-Broker trotz geringer Gebühren trägt, ist eine hohe Anzahl von Aufträgen und deshalb auch eine hohe Anzahl aktiver Kund:innen erforderlich. Insbesondere aufgrund der niedrigen Gebühren und der einfachen Bedienbarkeit haben Neo-Broker so weltweit Menschen mit wenig Kapital den Handel mit Wertpapieren erheblich erleichtert.
Der zweite Grund für die Reduzierung der Nachteile von Kleinanleger:innen sind Online-Communities rund um die Themen persönliche Finanzplanung und Wertpapierhandel. Die Ausrichtungen dieser Communities variieren und spiegeln die unterschiedlichen Ziele beim Wertpapierhandel selbst wider. Sie reichen vom langfristigen risikoscheuen Vermögensaufbau zwecks Altersvorsorge bis hin zur Spekulation. Nutzer:innen dieser Communities teilen Informationen, diskutieren und erstellen teilweise eigene Analysen zu Wertpapieren. Sowohl die Anzahl der Neo-Broker-Kund:innen als auch die der Online-Communities wächst stark. Dabei liegt nahe, dass sich Neo-Broker und Online-Communities gegenseitig in ihrem Wachstum verstärken, besonders dann, wenn sie außergewöhnliche Kursentwicklungen anstoßen und deshalb große mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zudem existieren mittlerweile sogenannte Social-Trading-Anbieter: Neben der Möglichkeit zum Handel wird auch eine Plattform zur Verfügung gestellt, bei der sich Nutzer:innen vernetzen können (siehe auch: Plattformökonomie).
Koordinierte Kleinanleger:innen
Eine außergewöhnliche Kursentwicklung war Anfang 2021 bei der Aktie des US-Unternehmens GameStop beobachtbar. Zuvor hatten Hedgefonds stark auf einen Kursverfall der Aktie spekuliert, indem sie sich Aktien für einen begrenzten Zeitraum ausgeliehen und dann verkauft hatten, mit dem Ziel diese vor der fälligen Rückgabe zu einem niedrigeren Kurs zurückzukaufen und so einen Gewinn zu erwirtschaften (diese Vorgehensweise wird als »shorten« einer Aktie bezeichnet). Als Reaktion darauf begannen Kleinanleger:innen der Online-Community Wallstreetbets, die Aktie zu kaufen und konnten so gemeinsam ein Handelsvolumen erreichen, welches den Kurs in die Höhe trieb.
Die Hedgefonds gerieten dadurch in eine auch als Short Squeeze bekannte Drucksituation und machten hohe Verluste. Während Short Squeezes an sich kein neues Phänomen sind, war die Tatsache, dass er durch organisierte Kleinanleger:innen (siehe: Selbstorganisation) initiiert wurde, beispiellos und sorgte weltweit für Schlagzeilen. Der Short Squeeze bei der GameStop Aktie demonstrierte, dass Neo-Broker und Online-Communities Kleinanleger:innen nicht nur Zugang, Information und Diskussion zum Wertpapierhandel erheblich erleichtern, sondern ihnen auch erheblich mehr Macht zur Einflussnahme auf den Markt verleihen.
Themenkonjunkturen
Let the people trade?
Gleichzeitig zeigte der Short Squeeze auch mögliche Widerstände gegen eine Verschiebung von Machverhältnissen zu gunsten von Kleinanleger:innen. So schränkte der bei den Kleinanleger:innen beliebte Neo-Broker Robinhood während des Short Squeezes eigenständig, d. h. ohne Anweisung durch die Börsenaufsicht, die Möglichkeit des Kaufs, nicht aber des Verkaufs von GameStop-Aktien erheblich ein, was die Entwicklung des Short Squeezes behinderte. Dass Robinhood und die unter Druck geratenen Hedgefonds über einen gemeinsamen wichtigen Geschäftspartner verfügten, wurde von vielen Marktteilnehmern und Gesetzgebern als potenzieller Interessenkonflikt beim Neo-Broker wahrgenommen und warf die Frage auf, ob die Kleinanleger:innen gezielt zugunsten größerer Marktteilnehmer ausgebremst wurden.
Aber nicht nur Robinhood wurde der Marktmanipulation verdächtigt: Auch ob es zwischen Hedgefonds oder innerhalb der Online-Community Wallstreetbets zu illegalen Absprachen kam, war Gegenstand von Diskussionen. Zudem wird einigen Neo-Brokern schon seit Längerem vorgeworfen, bezüglich der Monetarisierung der Transaktionsdaten (z.B. Preise und Auftragsvolumen) nicht ausreichend transparent gegenüber ihren Kund:innen vorzugehen.
Schwärme als Marktakteure
Kleinanleger:innen haben, wenn sie sich koordinieren, deutlich mehr Macht am Markt als bisher angenommen. Es ist möglich, dass Kleinanleger:innen in Form von Schwärmen auch zukünftig Impulse am Markt setzen werden. Solche Schwärme können dabei neben oder statt Gewinnen auch ideelle Ziele verfolgen und Unternehmen oder Wirtschaftszweige für ihr Verhalten belohnen oder bestrafen, beispielsweise indem sie entsprechende Kursbewegungen in Gang setzen oder mit Unternehmensanteilen verbundene Mitbestimmungsrechte nutzen. Zudem könnten organisierte Kleinanleger:innen auch politische statt direkt marktorientierte Impulse setzen. So haben Online-Communities in den USA mittlerweile eine Lobbygruppe gegründet, die die Interessen von Kleinanleger:innen vertreten soll. Die Aktivitäten in den Online-Communities der Kleinanleger:innen werden bereits heute von Großanlegern kontinuierlich beobachtet, beispielsweise um nicht unangenehm von Markentwicklungen überrascht zu werden, sondern stattdessen, wenn möglich, von ihnen zu profitieren.
Dies geschieht oft mit Hilfe von Algorithmen, die die Aktivitäten auswerten und teilweise auf dieser Basis auch direkt handeln. Es ist absehbar, dass bei häufigerem Auftreten derartiger Schwärme auch die Bedeutung entsprechender Algorithmen steigen wird. Tatsächlich ist mit einem Fonds, der basierend auf den Online-Aktivitäten der Kleinanleger:innen algorithmisch handelt, bereits ein neues Finanzprodukt entstanden. Die neu entdeckte Macht derartiger Schwärme eröffnet aber auch neue Möglichkeiten zur Marktmanipulation durch einzelne oder wenige Marktteilnehmer, beispielsweise durch die Beeinflussung der Diskussion in den Online-Communities mittels Bots (siehe: Social Bots).
Zukunft
Der Short Squeeze bei der GameStop-Aktie hat Fragen aufgeworfen. So wurde eine Debatte zu Fairness, Marktmanipulation und Transparenz des Wertpapierhandels angestoßen, die zu neuer Regulierung des Handels führen könnte. Letztlich stellt sich auch die Frage, welchen Einfluss die durch Neo-Broker und Online-Communities geschaffenen Möglichkeiten zur Teilhabe am Wertpapierhandel auf die breite Bevölkerung haben wird. Es ist durchaus denkbar, dass sich mit dem »Neo-Trader« dauerhaft ein neuer Typ von Anleger:innen etabliert, der Neo-Broker nutzt, seine Entscheidungen primär anhand von Informationen aus Online-Communities trifft, anstatt auf Massenmedien und professionelle Analyst:innen zu setzen, und sich gelegentlich, z.B. mit dem Ziel der kurzfristigen Gewinnmaximierung, am Schwarm-Trading beteiligt. Generell könnte es bei den Bürger:innen Deutschlands und der EU zu einem größeren Interesse an der Funktionsweise des Wertpapiermarkts und einer höheren Bereitschaft, selbst zu handeln, kommen.
Als Form der Geldanlage sind Wertpapiere in Deutschland immer noch vergleichsweise unpopulär im Vergleich zu beispielsweise Sparbüchern oder Immobilien. Auch deshalb befinden sich viele deutsche Großunternehmen mehrheitlich in ausländischer Hand. Eine Steigerung der nationalen Aktionär:innenquote könnte möglicherweise dazu führen, dass ein größerer Teil der Wertschöpfung in Form von Dividenden in Deutschland und der EU bleibt und dass die Bevölkerung aufgrund der mit Unternehmensanteilen verbundenen Rechte mehr wirtschaftliche Mitbestimmungsmöglichkeiten hat. Die neu geschaffenen Möglichkeiten zur Teilhabe am Finanzmarkt gehen allerdings auch mit dem Risiko des Verlustes der eigenen Ersparnisse oder sogar hoher Verschuldung einher, insbesondere wenn die Finanzkenntnisse der Anleger:innen und die rechtlichen Schutzmaßnahmen nicht mit den technischen Rahmenbedingungen mithalten.
Folgenabschätzung
Möglichkeiten
- Stärkere Teilhabe von Kleinanleger:innen an der Wertschöpfung von Unternehmen
- Eine bezüglich der Funktionsweise des Kapitalmarkts besser informierte und zunehmend erfahrenere Bevölkerung
- Häufigeres Aufspüren von Betrug durch eine Vielzahl von Menschen, die sich eigenständig über Marktentwicklungen und Unternehmen informieren
- Zusätzliches Korrektiv bei Über- und Unterbewertungen am Markt
- Aufbau von Wohlstand bei breiteren Bevölkerungsteilen
- Stärkeres Mitspracherecht breiterer Bevölkerungsteile bei der Führung von Unternehmen
Finanzbildung in Schulen verankern
Themen wie die persönliche Finanzplanung und die Funktionsweise von Märkten kommen in Schulen viel zu kurz. Hierunter fällt nicht nur der Wertpapierhandel, sondern z.B. auch die Fähigkeit, ein Haushaltsbudget zu erstellen und versteckte oder langfristige Kosten bei Anschaffungen zu identifizieren und zu berücksichtigen. Finanzielle Kenntnisse können verschiedene Aspekte des eigenen Lebens wesentlich beeinflussen.
Einseitige Gesetzgebung vermeiden
Der Short Squeeze bei der GameStop-Aktie war auch ein Ausdruck der Unzufriedenheit und des Misstrauens der Menschen gegenüber der Finanzwelt. Einseitige Regelungen, etwa die Einschränkungen der Rechte von Kleinanleger:innen - selbst mit der Begründung eines verbesserten Schutzes -, während die Regeln für Großanleger unverändert bleiben, könnten bestehende Risse in der Gesellschaft weiter vergrößern.
Gamification bei Brokern im Auge behalten
Ein großer US-Neo-Broker sieht sich Anschuldigungen ausgesetzt, seine App teilweise zu spielerisch gestaltet zu haben und Anleger:innen so zu häufigem Handel anzuregen, was zwar den Neo-Brokern zu Gute kommt, aber nicht immer ihren Kund:innen. Die Gamification von Broker-Apps könnte auch nach Europa überschwappen, ihr sollte frühzeitig und klar begegnet werden.