Asset-Herausgeber

Low Code im Praxistest - Digitaltaugliche Steuergesetzgebung ist notwendig

Low Code im Praxistest – Digitaltaugliche Steuergesetzgebung ist notwendig

Gastbeitrag von und

Chiara Endres ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Zentrum für Digitalisierung des Steuerrechts der Ludwigs-Maximilians-Universität (LMUDigiTax) bei Prof. Dr. h.c. Rudolf Mellinghoff. In ihrer Forschung beschäftigt sich Chiara Endres insbesondere mit interdisziplinären Fragestellungen, die an der Schnittstelle zwischen Rechtswissenschaft und den informatischen Grundzügen liegt. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt im Bereich der Digitalisierung bzw. Digitaltauglichkeit der Steuernormen.

Prof. Matthias Grabmair, PhD, ist Tenure-Track Assistant Professor für Legal Tech an der Fakultät für Informatik der Technischen Universität München. Er arbeitet im Bereich der Anwendung von Methoden von künstlicher Intelligenz, maschinellem Lernen, Data Science, Natural Language Processing, und Wissensrepräsentation zur Lösung von Aufgaben und Problemen aus den Bereichen Recht, Justiz und öffentliche Verwaltung.

Das Forschungsprojekt »Digitaltaugliche Steuergesetzgebung« untersucht, inwieweit die Ausgestaltung von Steuergesetzen eine effiziente Umsetzung und Anwendung sowohl für Menschen als auch Maschinen ermöglichen[1] kann. Es wird vom Zentrum für Digitalisierung des Steuerrechts der LMU (LMUDigiTax), der Professur für Legal Tech an der TUM sowie dem Bundesministerium für Finanzen (BMF) durchgeführt. Im Rahmen des Projekts fand am 13. Januar 2023 ein »Hackathon« in München statt, bei dem verschiedene Expertenteams unterschiedliche Ansätze und Tools zur Umsetzung von Steuergesetzen in Low-Code-Entwicklungswerkzeugen präsentierten.

Ein erster Schritt im Bereich der digitaltauglichen Gesetzgebung wurde auf Bundesebene durch den seit 2023 verpflichtenden »Digitalcheck« für neue Gesetze und Verordnungen gemacht. Dieser ist momentan jedoch nicht ausreichend, weshalb wir uns das Ziel gesetzt haben, insbesondere die Möglichkeiten von Low-Code-Technologien für digitaltaugliche Steuergesetze zu untersuchen. Nach unserem Kenntnisstand war besagter Hackathon die bundesweit erste Veranstaltung ihrer Art, bei der ein vergleichender Praxistest von verschiedenen Anbietern solcher Produkte im rechtlichen Kontext durchgeführt wurde.

Digitaltaugliche Steuergesetze

Eine einheitliche Definition für digitaltaugliche Steuergesetzgebung lässt sich nicht finden. Allerdings kann anhand der wesentlichen Kriterien der Digitaltauglichkeit, der Spezifikation des Digitalchecks sowie historischen Begriffen zu automationsfreundlichen[2] und automationsgerechten[3] Gesetzen folgende Definition formuliert werden: »Digitaltaugliche Gesetze ermöglichen einen digitalen Vollzug, indem sie so einfach, verständlich und eindeutig formuliert sind, dass sie sich mit möglichst wenig Expertenwissen algorithmisieren lassen um Teil der Datenverarbeitung zu werden.«

Ferner sind die wesentlichen Merkmale hervorzuheben, die digitaltaugliche Steuergesetze auszeichnen:

  • Einfache, klar definierte und verständliche Regeln
  • Restriktiver Einsatz sog. »Digitalisierungshindernisse«
  • Begriffsharmonisierung
  • Möglichkeit der automatischen Fallbearbeitung / Verarbeitung (digitale Vollzugstauglichkeit)
  • Medienbruchfreiheit / technikneutrale Formulierung
  • Konsistenz zwischen den Behörden inkl. einheitlicher IT-Strukturen
  • Datenaustausch i.S.v. Interoperabilität
  • Sichere Datenverwaltung (Datenschutz)
  • Prävention von Betrug und Fehlern
  • Prozessorientierung[4]

Insbesondere der Aspekt der Prozessorientierung sollte dabei hervorgehoben werden, da eine sinnvolle digitaltaugliche Steuergesetzgebung nur möglich sein kann, wenn stets der gesamte Prozess im Blick behalten wird, von der ersten Gesetzgebungsidee bis hin zum digitalen Vollzug.

Notwendigkeit der digitaltauglichen Steuergesetzgebung im Steuerrecht

Abbildung 1: Die Notwendigkeit digitaltauglicher Gesetze (Darstellung: LMUDigiTax)

Derzeit wird das Steuerrecht mit Unterstützung der Finanzverwaltung im herkömmlichen Gesetzgebungsverfahren in natürlicher Sprache entwickelt und vom Parlament verabschiedet. Die teils hochkomplexen Vorschriften werden sodann sowohl von technisch versierten Steuerexpert:innen oder Programmierer:innen in der Verwaltung als auch durch Entwickler:innen von Steuersoftware in maschinenlesbare Form umgewandelt und in die jeweiligen Prozessabläufe integriert. Dies gewährleistet nicht, dass das Steuerrecht von Finanzverwaltung, Steuerpflichtigen und deren Berater:innen sowie Finanzgerichten einheitlich ausgelegt und angewendet wird. Auch ist nicht sichergestellt, dass die angewendeten Programme das geltende Steuerrecht fehlerfrei umsetzen, da insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe oder Ermessensnormen individuell ausgelegt und in der formalen Repräsentation abgebildet werden müssen. Gesetzestexte beinhalten mehr als nur Tatbestand-Rechtsfolge-Strukturen und können gerade nicht immer 1:1 in einen identischen Code »übersetzt« werden. So entsteht das Risiko des Auseinanderfallens von Gesetzestext und Code, was zu uneinheitlichem Gesetzesvollzug und fehlender Rechtssicherheit führen kann.

Um diesen Problemen entgegenzuwirken, bedarf es von Anfang an digitaltaugliche Gesetze, die eine Divergenz von Normtext und Code vermeiden. Low Code, No Code oder domänenspezifische Sprachen (engl. Domain-Specific Languages) haben dabei großes Potential zur Unterstützung bei der Erstellung von Rechtstexten, die sowohl mensch- als auch maschinenverständlich sind. Darüber hinaus ist ein digitaltaugliches Recht sehr viel besser in der Lage, den Willen des Gesetzgebers in rechtssicherer Weise zum Ausdruck zu bringen. Schließlich trägt die strenge Logik digitaler oder digitaltauglicher Gesetze zu einer besseren Systematisierung, Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit bei. Ferner bringt die notwendige Eindeutigkeit einer Formalisierung von Gesetzen einen Erkenntnisgewinn (z.B. im Hinblick auf Regel-Ausnahme-Verhältnisse zu bestehenden Regelungen), der idealerweise schon im Gesetzgebungsprozess entstehen sollte.

Ziel ist deshalb die Schaffung und Verabschiedung von Gesetzen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen, mensch- und maschinenverständlich sind, zu eindeutigen Ergebnissen im Vollzug des Rechts führen und im Vollzug gleichmäßig angewendet werden.

Technische Bewertung

Die Kodierung von Wenn-Dann-Beziehungen und Berechnungsformeln in Gesetzen erfolgt technisch mittels regelbasierter Modellierung unter Zuhilfenahme spezieller Entwicklungswerkzeuge. Dies wurde bereits in den 1980er Jahren beforscht und erlebt aktuell im Lichte breiterer Technikaffinität und moderner User-Interfaces wiedererstarkendes Interesse (bspw. der Workshop »Programming Languages and the Law« (ProLaLa) 2023, der im Rahmen des prominenten jährlichen »Symposium on Principles of Programming Languages« (POPL) stattfindet). Konzeptionell ist dabei die eigentliche steuerrechtliche Normen- und Berechnungslogik von der Struktur des Formulars (bzw. der Eingabemaske der Steuersoftware) zu unterscheiden. Wenn es sich bei der Dateneingabe stets nur um lineare Listen von zu erhebenden Elementen handelt, wird der:die Benutzer:in unnötig »eingeschnürt« und eine effektive Navigation erschwert. Die interne Architektur des Systems hat außerdem Konsequenzen für den Wartungs- und Erweiterungsaufwand bei Gesetzesänderungen oder anderen Modifikationen. Verschiedene No-Code- und Low-Code-Softwareprodukte für Fachexpert:innen unterscheiden sich dabei in der Konzeption und dem Design der Modellierungswerkzeuge, insbesondere bei der Kombination von grafischen Benutzeroberflächen und Komponenten zur Bearbeitung von logischen Elementen und/oder Programmcode. Eine Informatikausbildung ist zur produktiven Nutzung der Tools im Regelfall nicht erforderlich, was die Vorzüge moderner No-Code- und Low-Code-Lösungen nochmals unterstreicht.

Werkstattbericht Hackathon

Bei dem Hackathon präsentierten verschiedene Unternehmen ihre Lösungsansätze, darunter mgm technology partners, knowledgeTools, Deloitte Garage, DATEV eG, KPMG und Taxdoo. Konkreter Inhalt des Workshops war die Umsetzung der Tarifvorschrift § 34 EStG sowie § 2 Abs. 3 EStG in der Fassung von 1999/2000/2002. Im Rahmen der Vorbereitung wurden den Teams Beispielfälle zur Überprüfung der Modellierung zur Verfügung gestellt.

Abbildung 1: Der Hackathon 2023 (Foto: LMUDigiTax)

Die einzelnen Modellierungen wurden mittels No-Code-Plattformen, BPMN (Business Process Model and Notation) und anderen Tools erstellt. Der übliche Ablauf beginnt mit der Deklaration von relevanten Datenfeldern gefolgt von der Erstellung von Validierungsbedingungen und Wenn-Dann-Regeln, die gültige Eingaben sicherstellen und das Ergebnis produzieren. Formularmasken zur Dateneingabe wurden in den meisten Fällen (semi-) manuell erstellt oder automatisch aus der Spezifikation generiert.[5]

Zentrale Erkenntnisse des Hackthons waren, dass alle Teilnehmer:innen bei schwer verständlichen Formulierungen, Schachtelsätzen, fehlender Struktur und auch inhaltlichen Unschärfen Schwierigkeiten bei der Umsetzung hatten. Außerdem ist hervorzuheben, dass sich die juristische Prüfungsreihenfolge und der Arbeitsablauf in den Tools unterscheiden können. Beispielsweise kann entweder mit den einzelnen Datenelementen (z.B. Einkommen) oder mit der Ergebnisfrage (z.B. Höhe der Steuerschuld) begonnen werden, was Einfluss auf die intuitive Benutzerführung haben kann.

Besonders kritisch und damit hervorzuheben ist das Ergebnis, dass die Modellierungen der Beispielvorschriften durch die Teams sich teils logisch voneinander unterschieden, verschiedene Konkretisierungen von unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensnormen vorgenommen wurden und die Teilnehmer:innen dadurch zu unterschiedlichen Rechen- und auch Rechtsergebnissen kamen.

Die Beobachtungen des Hackathons bestätigen, dass bessere Gesetze von Anfang an digitaltauglich konzipiert werden müssen. Eine Zusammenarbeit zwischen Jurist:innen und Techniker:innen ist entscheidend, um den Herausforderungen von komplexen Gesetzestexten, inhaltlichen Unklarheiten und fehlender Standardisierung zu begegnen. Alle Teilnehmer:innen betonten die Bedeutung einer klaren Struktur und Transparenz bei der Umsetzung von Gesetzen in Code.

Schlusspetitum

Die aktuellen Entwicklungen und der Blick auf die Nachbarländer zeigen die enorme Bedeutung digitaltauglicher Steuergesetzgebung. Insgesamt kann das Steuerrecht mit seiner vergleichsweisen geringen Anzahl an unbestimmten Rechtsbegriffen, Ermessensnormen und der Ausgestaltung als Massenfallrecht als Musterbeispiel für die Digitalisierung des Rechts gesehen werden.[6]

Ein Überblick über die bisherigen Beiträge dieser Blogreihe:

  1. Entlasten, nicht entmachten: Was der Gesetzgeber heute tun kann, um die Automatisierung der öffentlichen Verwaltung zu unterstützen
  2. Modellieren statt programmieren: Low Code und die digitalisierte Körperschaftssteuer
  3. »Better Rules«: Neuseelands Erfahrung mit digitalisierbarem Recht in der Corona-Krise
  4. Recht digital: Schwer verständlich »by Design« und allenfalls teilweise automatisierbar?
  5. Cracking the Code
  6. Digitaltaugliches Recht – Aus Sicht der legistischen Praxis
  7. Digital Only & Digital First – wie steht es um die rechtlichen Rahmenbedingungen?
  8. Low Code als Law Code – Von der Idee zum Verwaltungsakt

[1] Vgl. Endres/Mellinghoff, beck.digitax 06/22, S. 366 ff.; Endres/Grabmair/Heinemann/Hinrichs/Jennrich, Re:thinking Tax 02/23 , S. 36 ff.

[2] Herold, DÖV 2020, S. 181, 188; Ruß/Ismer/Margold, DStR 2019, S. 409, 409; Scheubel, DSWR 1973, S. 322, 323; Vgl. auch die Volloption von Kube in: Kube/Reimer, Geprägte Freiheit 2018/19, S. 19, 23.

[3] Fiedler, DVR 1972, 41, 44, 49; Fiedler in: Röding (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung 1976, 666, 669.

[4] Endres/Mellinghoff, beck.digitax 06/22, S. 366 ff.; Vgl. Nationaler Normenkontrollrat, Erst der Inhalt, dann die Paragraphen, S. 43.; Vgl. Berichte des NEGZ Nr. 26, Digitalcheck im Gesetzgebungsverfahren; Danish Ministry of Finance, Agency for Digitisation, What is digital-ready legislation? (digst.dk) (zuletzt aufgerufen: 03.08.2023).

[5] Vgl. ausführlich dazu Endres/Grabmair/Heinemann/Hinrichs/Jennrich, Re:thinking Tax 02/23 , S. 36 ff.

[6] Vgl. Endres/Mellinghoff, beck.digitax 06/22, S. 366 ff.

Weiterführendes von ÖFIT:

re|Staat digital – Der ÖFIT-Podcast: Low Code – Folge 23

Der Ansatz Low Code verspricht eine Softwareentwicklung von neuen Anwendungen weitgehend ohne klassischen Programmcode. Auf diese Weise soll es für IT-Nutzer:innen immer einfacher werden, Aufgaben und Geschäftsprozesse selbst zu programmieren. Ob es wirklich so einfach ist und welche Konsequenzen und Möglichkeiten dies für die Entwicklung von Fachverfahren in der öffentlichen Verwaltung hat, erörtern wir bei re|Staat digital mit Anna Opaska.

Recht Digital - Maschinenverständlich und automatisierbar

Eindeutige Begriffsdefinitionen, Standardisierung von Rechtsbegriffen, Visualisierung von Entscheidungsregeln und Vollzugsprozessen – das sind einige der Voraussetzungen, die bereits bei der Entstehung von Rechtsvorschriften berücksichtigt werden sollten, um die Rechtsanwendung digital möglich zu machen. Denn: Das von der Verwaltung zu vollziehende Recht ist häufig genug nicht „digitaltauglich“ – es beinhaltet also Hürden für durchgehend digitale Verwaltungsprozesse oder automatisierte Prüfungen. Der vorliegende Impuls zeigt auf, welche sozio-technischen Aspekte in der Entstehung des Rechts zu berücksichtigen sind und wie der Rechtsetzungsprozess adaptiert werden kann, um eine Grundlage für die (Teil-)Automatisierung der Rechtsanwendung zu legen. Dabei identifizieren wir die Maschinenverständlichkeit des Rechts als zentralen Hebel, der bereits in der Entwurfsphase von Gesetzen anzusetzen ist.

(Un)berechenbar - Algorithmen und Automatisierung in Staat und Gesellschaft

Wie wirken datenbasierte Technologien, Algorithmisierung und Automatisierung auf staatliches Handeln, auf politisch-administrative Prozesse, auf Regierungspraktiken und -rationalitäten? Nach welchen Logiken entsteht Öffentlichkeit in den von algorithmischen Schaltungsprozessen strukturierten digitalen Kommunikationsräumen? Welche neuen Handlungsräume und Perspektiven eröffnen sich für Regierungs- und Verwaltungshandeln, wie wirken datenbasierte Technologien aber auch wieder auf diese zurück? Welche politischen, demokratietheoretischen, rechtlichen und ethischen Fragestellungen ergeben sich? Diese Kernfragen werden in der Publikation aus der Perspektive der Verwaltungswissenschaften, der Rechtswissenschaften, der politischen Theorie, der Informatik und Gesellschaft, der Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie Politik und Zivilgesellschaft beleuchtet.


Veröffentlicht: 07.11.2023